Hamburger Geheimnisse: Heute: Warum 20 Kaiserskulpturen die Fassade des Rathauses schmücken

Altstadt. Ob sie schön ist, sei dem Geschmack des Betrachters überlassen. Beeindruckend ist sie aber gewiss: die Fassade des Hamburger Rathauses. Und voller Symbolik. Das hat sehr viel mit Bürgerstolz zu tun. Und ein wenig mit Lügen und Fälschungen.

111 Meter breit ist die Fassade, und 112 Meter ragt der Turm in der Mitte in die Höhe. Dort ist über dem Hamburg-Wappen ein Vogel angebracht: ein Phönix. Symbol dafür, dass Hamburg wie der Sagenvogel nach den Zerstörungen des Großen Brandes von 1842 wiederauferstanden ist. Das Feuer hatte auch das Alte Rathaus niedergebrannt – und es sollte 55 Jahre dauern, bis das neue 1897 eingeweiht werden konnte.

Da Hamburg immer Teil des Deutschen Reiches war, sind entlang der Fassade Skulpturen von 20 Kaisern angebracht. Noch über den Monarchen aber thronen am Mittelturm die Darstellungen der bürgerlichen Tugenden: Weisheit, Eintracht, Tapferkeit und Frömmigkeit. „Das soll die Freiheit der Stadt gegenüber der Krone verdeutlichen – die Hamburger waren sehr stolz darauf, schon im Mittelalter unabhängig von Fürsten oder Bischöfen sich selbst regiert zu haben“, sagt Lars Haider, der Chefredakteur des Hamburger Abendblatts. Das wurde umso mehr betont, da es mit der Eigenständigkeit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr so weit her war. Nach der Reichsgründung 1871 und dem Zollanschluss war die hanseatische Autonomie geringer als je zuvor.

Und 1892, als die Hamburger Behörden während der Cholera-Epidemie, der über 8000 Menschen zum Opfer fielen, katastrophal versagt hatten, war sogar diskutiert worden, die Stadt unter preußische Verwaltung zu stellen. „Ernsthaft verfolgt wurde dieser Plan, der zu einem Aufschrei des Entsetzens in Hamburg geführt hatte, dann aber nicht“, erläutert Haider.

Doch was hat es nun mit den Fälschungen und Lügen auf sich? Die 20Kaiserfiguren scheinen auf den ersten Blick ziemlich durcheinander angeordnet zu sein. In der Mitte, über dem Haupteingang, sind links Karl der Große und rechts Friedrich Barbarossa zu sehen. Dann geht es zu den Seiten jeweils in chronologischer Reihenfolge weiter. Von Karl, dem ersten Kaiser (regierte 768–814), bis zu Lothar III. (1125–1137); und von Barbarossa (1152–1190) bis zu Franz II., dem letzten Kaiser des alten Reiches (1792–1806). Nun gab es natürlich im Laufe dieser über 1000 Jahre viel mehr Kaiser als nur diese 20. Warum gerade diese gezeigt werden und andere nicht, bleibt wohl ein Rätsel. Dass aber Karl und Friedrich in der Mitte stehen, ist kein Zufall, sondern eine Hamburgensie. Denn im Auftrag des großen Karls soll 811 eine Kirche zwischen Alster und Bille errichtet worden sein. Außerdem eine Burg: die Hammaburg eben. Das ist zwar immer noch oft zu lesen, allerdings mittlerweile als historische Unwahrheit entlarvt. Karl hatte mit der Gründung Hamburgs rein gar nichts zu tun. Das wäre also die erste Unwahrheit.

Barbarossa ist, genau wie Karl, niemals in Hamburg gewesen. Für die Entwicklung der Stadt spielte er aber eine entscheidende Rolle – allerdings ohne sein Wissen.

Dabei geht es um den sogenannten Barbarossa-Freibrief, den der Kaiser 1189 ausgestellt haben soll. Das Schriftstück war für Hamburg von unschätzbarem Wert. Es legte fest, dass die Hamburger Kaufleute entlang der Elbe bis zur Mündung nirgends Zölle zahlen müssen. Außerdem waren die Hamburger nicht mehr zur Heeresfolge verpflichtet, mussten den Kaisern also keine Truppen stellen, und es durften im Umkreis von 15 Kilometern rund um die Stadt keine Burgen gebaut werden.

Dieses Dokument, das die Hamburger im 13. Jahrhundert präsentierten, ermöglichte erst den Aufstieg zur Handelsmetropole. „Die lästige Konkurrenz, etwa das flussabwärts gelegene Stade, wurde so dauerhaft ausgeschaltet“, sagt Lars Haider. Das kleine Problem: Es ist eine Fälschung. Die Urkunde wurde (wahrscheinlich 1225) im Auftrag des Hamburger Rates erstellt. Die Legende, die sie sich ausdachten, war, dass der Schauenburger Graf und Stadtherr Adolf III. (1160–1225) den Freibrief aus Dankbarkeit erhalten hatte. Er war mit seinen Truppen dem Kreuzzugsaufruf des Kaisers ins Heilige Land gefolgt, auf dem Barbarossa 1190 ums Leben kam.

Manche Historiker meinen, dass Friedrich tatsächlich die Zusagen für Hamburg gemacht hatte, die Urkunde aber verloren gegangen und deshalb eine neue angefertigt worden sei. Die meisten sind aber überzeugt, dass alles eine Lüge ist. Warum sonst hätte Hamburg erst 35 Jahre später, als alle Beteiligten längst tot waren, plötzlich ein so wichtiges Dokument präsentiert?

Den Erbauern des Rathauses kann man das jedenfalls nicht vorwerfen. „1897 konnte man mit gutem Recht behaupten, dass Karl der Große die Stadt gegründet und Barbarossa ihr einen Freibrief ausgestellt hat“, sagt Haider. So schauen die beiden berühmtesten Kaiser des Mittelalters noch immer auf den Rathausmarkt. Und über ihnen steht der Satz: „Libertatem quam peperere maiores digne studeat servare posteritas“, also „Die Freiheit, die errungen die Alten, möge die Nachwelt würdig erhalten“.

Dass die 20 Kaiser heute würdig auf den Rathausmarkt blicken, daran ist das Abendblatt übrigens nicht ganz unschuldig. Anfang der 90er-Jahre waren die Figuren wegen Wind, Wetter und Schadstoffen ziemlich angegriffen. Und die Stadt hatte kein Geld, um sie alle restaurieren zu lassen. Also startete das Abendblatt 1994 eine Hilfsaktion und suchte Sponsoren. „Schon nach wenigen Tagen waren Paten für jeden Kaiser gefunden, obwohl pro Figur 75.000 Mark nötig waren“, berichtet Lars Haider. Drei Jahre dauerten die Arbeiten, doch zum 100. Jahrestag der Rathauseröffnung 1997 konnten alle ihren angestammten Platz wieder einnehmen. Das ist – dank der Abendblatt-Leser – wahr. Auch wenn der Hamburg-Bezug von Karl dem Großen und Friedrich Barbarossa nur eine Lüge ist...