Fernanda Brandao auf einem Spaziergang zu begleiten ist wie einen Energieriegel geschenkt zu bekommen. Die Tänzerin, Sängerin und Moderatorin zeigt einen Stadtteil, dessen Comeback kurz bevorsteht.

Der Alsenpark hatte sich eigentlich auf einen weiteren gemütlichen Tag in seiner relativen Unbekanntheit gefreut: Ein Jogger dreht lustlos seine Runden, eine müde Mama wippelt an einem Kinderwagen herum, Tauben zerfleddern eine Zeitung. Dann taucht Fernanda Brandao auf, packt ihre Sporttasche und eine XXL-Ladung Energie aus und legt los. Ginga heißt das von ihr entwickelte Work-out, und nach vier, fünf Übungen wirkt die Umgebung anders.

Der Jogger schiebt plötzlich kraftvolle Liegestütze ein, die Mama öffnet ihre Augen, vom Spielhaus Alsenpark kommen Kinder gerannt und wollen zuschauen. Zu sehen gibt es eine 31-Jährige, die Sport macht – und gleichzeitig malt. Der Rasen, die Bäume, der Weg – mit ihr wirkt plötzlich alles bunter. So muss es sich angefühlt haben, als die Schwarz-Weiß-Geräte durch Farbfernseher ersetzt wurden.

Fernanda Brandao mag es nicht eintönig, deshalb hat sie gleich mehrere Berufe: Moderatorin, Tänzerin, Sängerin, Fitnesstrainerin. Außerdem ist sie Streunerin, es hält sie nicht lange an einem Platz. Bereits 30-mal ist sie umgezogen, zum letzten Mal packte sie ihre Koffer im vergangenen Jahr aus, als sie ihre Eigentumswohnung in der Nähe des Altonaer Bahnhofs bezog, so klein wie ein Hotelzimmer und auch ein bisschen so eingerichtet. Keine Bilder an den Wänden, alles sehr aufgeräumt. Wer viel unterwegs ist, der kann nicht lange suchen. Unordnung ist immer in Eile. Und hektisches Kofferpacken hält Traveller wie Fernanda nur auf.

Ihre wichtigste und größte Reise macht Fernanda, als sie neun Jahre alt ist: Sie wandert mit ihrer Mutter von Rio de Janeiro nach Hamburg aus. Barmbek Ende November – kann man sich einen ungünstigeren Willkommensgruß für eine junge Brasilianerin vorstellen? „Bis dahin kannte ich Minusgrade nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass Finger vor Kälte richtig schmerzen und dass man auf Glatteis ausrutscht“, erzählt Fernanda.

Sie fällt hin, es tut weh, sie steht wieder auf. Lernt in Windeseile Deutsch (inzwischen beherrscht sie fünf Sprachen), weil sie die Leute und die Zeichentrickfilme im Fernsehen verstehen will. Sie übernimmt die Kommunikation mit den Ämtern und verdient schon bald ihr eigenes Geld. Mit elf hat sie ihr erstes Engagement als Tänzerin, mit 16 ist sie Deutschlands jüngste lizenzierte Fitnesstrainerin.

„Als Kind war ich sehr emanzipiert und wollte früh auf eigenen Beinen stehen,“ sagt Fernanda. Wer einmal Armut erlebt hat, der entwickele ein anderes Sicherheitsbedürfnis, glaubt sie. „Es ist so schade, dass mir meine Heimat keine Sicherheit, keine Perspektive bieten konnte.“ Heute sucht sie sich das Beste aus beiden Welten heraus, der deutschen und der brasilianischen, die sich ihrer Ansicht nach gut ergänzen: „Ich glaube, dass man nirgends vollkommene Paradiese findet. Man kann nur versuchen, immer etwas Gutes mitzunehmen von den Orten, an denen man lebt.“

Ihren derzeitigen Ort zum Leben hat Fernanda gewählt, weil sie dort die Internationalität schätzt, das Multikulturelle. In Altona-Nord leben relativ viele Ausländer, 19 Prozent der mehr als 21.000 Einwohner kommen aus einem anderen Land, 34 Prozent haben einen Migrationshintergrund. „Ich mag an dem Viertel, dass es durch die Menschen mit verschiedenen Glaubensrichtungen und Hintergründen zu einem Austausch der Kulturen kommt“, sagt Fernanda, die jetzt nach dem Training mit uns zu einem Spaziergang aufbricht.

Wir gehen an der Eckernförder Straße an Saga-Hochhäusern vorbei, die gerade frisch renoviert werden, damit endgültig das alte Image als „Problembezirk“ abgelegt wird, und schon stehen wir da, wo man in Altona-Nord nach ein paar Metern fast überall steht: an einer sehr großen, sehr lauten Straße. Der Stadtteil wird durchzogen von brummenden Schneisen, er leidet darunter, dass die meisten Hamburger ihn nur vom Durchfahren kennen, also fast gar nicht beziehungsweise nicht von seiner besten Seite. Kieler Straße, Alsenstraße, Max-Brauer-Allee, Stresemannstraße – alles Fahrbahnen, auf die niemand abfährt. Die man aber kennt, weil man dort geblitzt werden kann.

Ganz Altona-Nord ist voller verwandelter Orte. Voller Gebäude und Plätze, deren historische Bedeutung fast vergessen wurde, die niemand mehr sieht. Wissen die Bewohner des Hochhauses an der Kieler Straße 20 beispielsweise, dass dort früher die erste Mühle im Stadtgebiet stand? Die Wassermühle am Diebsteich war ein sehr beliebtes Ausflugslokal. Mit Gästen, die im Garten entspannten, einem Wirt der sich über reichlich Einnahmen freute, und Jungs, die im Herbst die Birnen von den Bäumen klauten.

Doch Ende des 20. Jahrhunderts versiegten Diebsteich und Isebek, und die Bäche wurden zugeschüttet. Wissen die Besucher des denkmalgeschützten Arbeitsamtes, dass es an dieser Stelle bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges richtig lustig zuging? Hier befand sich der Lunapark, ein großer Freizeitpark mit modernen Fahrgeschäften wie einer „Berg- und Talbahn“.

Und wissen die Passanten des Logenhauses an der Sommerhuder Straße, dass sich hier ab 1903 der Internationale Orden der Guttempler niederließ? Manche nannten die Mitglieder spöttisch die „Wassertrinker“, denn sie lebten abstinent und versuchten, Alkoholiker von ihrer Sucht zu befreien. Ende des 19. Jahrhunderts war die Trunksucht gerade in Arbeitervierteln wie diesem ein großes Problem.

Heute versammeln sich die Trinker rund um den JPS-Kiosk an der Kreuzung Alsenstraße/Stresemannstraße und schräg gegenüber am Holstenbahnhof. „Du bist nicht so wütend, wie du sein solltest!“, hat einer auf seine Jacke geschrieben. Zwei Dixi-Toiletten sorgen dafür, dass niemand mehr an den Zaun der Kita pinkelt, aber diese Kreuzung hatte schon mal bessere Tage.

Als 1893 der Holstenbahnhof gebaut wurde – vorher wäre hier niemand ein- und ausgestiegen, weil die Gegend sehr ländlich geprägt war –, krönte eine prächtige Doppelhalle das Gebäude, ebenso ein Zaun, der verhinderte, dass Männer von der Terrasse des Bahnhofsrestaurants auf die Straße fielen. Es kam nämlich ab und an vor, dass einem der Gäste das Bier der benachbarten Brauerei zu gut schmeckte.

Die Holsten Brauerei ist heute neben der Neuen Flora eine der Bedeutsamkeiten von Altona-Nord. Das Musical-Theater besuchten seit seiner Eröffnung 1990 im Schnitt 500.000 Zuschauer pro Jahr, gerade läuft das „Phantom der Oper“. Fernanda Brandao hat fast alle Musicals gesehen, die es gibt, aber so richtig entspannen kann sie sich als Besucherin nicht: „Das Berufsauge bleibt immer wachsam.“

Bei der Tour durch die Brauerei (kann jeder Interessierte für fünf Euro buchen) sieht das schon anders aus. Fernanda probiert im Sudhaus Malz („schmeckt wie Vollkorn mit Bitterschokolade“), lacht im Shop über die Astra-Werbungen und lernt im Umpackwerk, wie eng verbunden die Brauerei mit den Hamburger Fußballvereinen ist: Ein braun gestrichener Roboter heißt Stani, nach St. Paulis ehemaligem Trainer Holger Stanislawski, und ein blauer Roboter wird Uwe gerufen, nach der HSV-Legende Uwe Seeler.

Fernanda Brandao mag Fußball, bei der Fußball-Weltmeisterschaft war sie live dabei. Für die ARD hat die Moderatorin wochenlang über Land und Leute berichtet. Die Begeisterung der Einheimischen über die Deutschen sei groß gewesen, selbst nach der historischen Niederlage der Brasilianer habe sich die Wertschätzung für die Nationalelf eher noch gesteigert. „Die Deutschen haben das, was in Brasilien fehlt: Struktur, Ordnung, Fleiß, Disziplin. Ich liebe Brasilien, es ist ein fantastisches Land, aber es zwingt dich ständig in die Knie, weil so vieles falsch läuft.“

Ein Schock-Erlebnis war für Fernanda, als ihr Vater mit ihrem Halbbruder und dessen Mutter entführt wurde. Die Frau arbeitete bei einer Bank, die Entführer wollten Geld erpressen und bekamen es schließlich. Sie habe immer gedacht, dass solche Geschichten nur anderen passieren, aber sie seien eben keine Einzelfälle in Brasilien, erzählt Fernanda, und deshalb müsse sie etwas tun. Mit den Einnahmen aus ihrem Parfüm unterstützt sie unterschiedliche Hilfsprojekte in ihrer Heimat.

Besonders am Herzen liegt ihr das Projeto UERÊ in der Favela da Maré in Rio de Janeiro. In dieser begleitenden Schule werden die Blockaden von Kindern aus gefährlichen Wohngegenden oder von Straßenkindern gelöst. Viele von ihnen sind traumatisiert, und Traumata bewirken, dass ihr Kurzzeitgedächtnis nicht funktioniert. „Die Begegnungen mit den Kindern hat mich sehr bewegt. Aber Armut und Leid gibt es genauso in Deutschland. Ich war in vielen Einrichtungen des Vereins Arche, da habe ich zum Beispiel ein vierjähriges Kind kennengelernt, das jeden Tag schwarzfährt, um Essen zu erbetteln.“ Fernanda Brandao schüttelt den Kopf. Nein, sie denke nicht, dass sie die Welt verbessern könne. Aber sie würde gerne sprechen für die Menschen, die keine Stimme haben, da ihr viele der Probleme so vertraut sind. „Jeder Mensch verdient es, etwas zu lernen.“

Es müsste einen Trick für Altona-Nord geben: eine Brille, mit der man gestern und heute gleichzeitig sehen würde. Wenn man durch die Straßen geht, wirken viele Gebäude nichtssagend, teilweise abgetakelt – bis man das Geschichtsbuch aufschlägt und an die großen, schönen Zeiten erinnert wird. Als Bedeutung die Straßen erfüllte und nicht Bedeutungslosigkeit. Wäre Altona-Nord ein Sportler, könnte es am ehesten Boris Becker sein. Der Unterschied ist nur: Der Tennisspieler steht nicht kurz vor dem Comeback.

Der Stadtteil schon. Gleich drei der interessantesten Bauvorhaben Hamburgs werden in Altona-Nord realisiert: 1. Der Fernbahnhof Altona (wegen der vielen Geschäfte gerne „Kaufhaus mit Bahnanschluss“ genannt) wird an die S-Bahn-Station Diebsteich verlegt. Ein echtes Jahrhundertprojekt. 2. Auf dem stillgelegten Gelände und dem Areal des alten Güterbahnhofs entstehen insgesamt 3500 Wohnungen, die sogenannte Neue Mitte Altona. Die Wohnungen im ersten Bauabschnitt werden voraussichtlich 2016/2017 bezugsfertig sein. 3. Die Kurt-Tucholsky-Schule soll ebenfalls umziehen, auf dem Areal zwischen Kieler Straße, Eckernförder Straße und der zauberhaften Mennoniten-Kirche entstehen ebenfalls bis zu 1000 neue Wohnungen.

Die nächste Sehenswürdigkeit von Altona-Nord zeichnet sich eher durch leise Töne aus. Bei unserem Spaziergang sind wir an Graffiti mit Slogans wie „Normalität ist Glamrock“ sowie unzähligen Dönerbuden, Fahrradläden und Kitas vorbeigekommen. Vor einem Spielplatz steht ein Schild mit durchgestrichener Spritze und Haschtüte: „Drogen – hier bitte nicht“. Und jetzt stehen wir an der Helenenstraße vor einem absoluten Ruhepol, der Kirche der Stille. Sie steht jedem offen, egal welcher Konfession, der mal zur Besinnung kommen und meditieren möchte oder der eine Atempause braucht.

Ohne Schuhe sitzt man auf Kissen am Boden und hört nichts außer der inneren Stimme – wenn man ihr bei dem ganzen alltäglichen Stress nicht schon längst den Mund verboten hat. „Solche Orte müsste man in Brasilien einführen. Denn eines findet man dort nie: Ruhe. Es ist so ein lautes Land. Die Straße lärmt, die Leute reden laut und viel durcheinander, parallel laufen mehrere Fernseher und Radios, die Kinder schreien und der Hahn kräht“, sagt Fernanda und lacht.

Während die Kirche der Stille den leisesten Punkt in Altona-Nord markiert, liegt der lauteste bei der Sternbrücke. Oben knattern knapp 1000 Züge, unten 48.000 Autos am Tag, und an jeder Ecke lockt ein Musikclub: Astra-Stube, Waagenbau, Fundbureau. Jedes Alter, jeder Geschmack, jede soziale Schicht feiert hier zum Rhythmus der S-Bahn. Wahrscheinlich gibt es keinen anderen Platz in Hamburg, der gleichzeitig so hässlich und so tolerant ist. Trotz ihrer Beliebtheit werden die Musikschuppen voraussichtlich Ende 2015 schließen müssen, wenn die Bahn mit der Brückensanierung beginnt. Wieder ein Stück Subkultur, das wie ein armer Ex-Freund, der von seiner Freundin auf die Straße gesetzt wird, nicht mehr weiß, wohin.

Doch im Allgemeinen bietet Altona-Nord viel Raum für Kultur. Der Verein Frappant zum Beispiel hat einem toten Gebäude neues Leben eingehaucht. 150 Künstler arbeiten nun in der ehemaligen Viktoriakaserne.

„Ich male ebenfalls gern“, erzählt Fernanda. „Ich kann es zwar nicht, aber es hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich. Ich mag das Zusammenspiel der Farben, das lange, konzentrierte Sitzen und dass ich in dem Moment an nichts anderes denke.“

Ihr wichtigstes Kunstwerk trägt Fernanda immer bei sich. Auf ihrem Rücken befindet sich ein Tattoo mit der Aufschrift: „Alles, was ich besitze, trage ich in mir.“ Wie viel Energie, wie viel Tiefe und Kraft das ist, hätte man der 1,60 Meter großen Frau mit den sexy Beinen und den langen Wimpern auf den ersten Blick gar nicht zugetraut.

Mit Fernanda Brandao ist es wie mit Altona-Nord: Ein zweiter Blick lohnt sich unbedingt.

Dieser Beitrag ist auch im Magazin „Der Hamburger“ erschienen, das für 9,80 Euro an vielen Verkaufsstellen im Stadtgebiet erhältlich ist.