Hamburger Geheimnisse. In unserer Serie geht es heute um die Nikolaikirche – und warum sie kein Kuppelbau wurde.

Altstadt. Es ist ein im eigentlichen Wortsinne merkwürdiger Ort, an dem nichts so recht zusammenzupassen scheint. Der gewaltige Turm misst 147 Meter und war – von 1874 bis 1877 – der höchste der Welt, bis er von der Kathedrale in Rouen um 4,5 Meter übertroffen wurde. Vom Rest des Baus stehen nur die Mauerreste des Kirchenschiffs: eine Ruine als Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs. St. Nikolai, zerstört während der verheerenden Bombenangriffe im Sommer 1943, ist ein Ort voller Gegensätze. Moderne Skulpturen inmitten der Trümmer des neogotischen Bauwerks erinnern an die Toten des Terrorregimes der Nazis. Von stillem Gedenken kann jedoch keine Rede sein: Sechsspurig bringt die Willy-Brandt-Straße, die Hamburg durchschneidet, direkt neben der Kirche den Verkehr der Millionenstadt mit sich – und seinen nie versiegenden Lärm.

Doch St. Nikolai erzählt viele Geschichten, und diese spielen zum Teil lange vor dem Wahnsinn der Weltkriege. Mit Zerstörung haben aber auch sie zu tun: so mit dem Großen Brand von 1842, dem weite Teile der Stadt zum Opfer fielen, auch die mittelalterliche Nikolaikirche.

Eine Bronzetafel an den Resten des Querschiffs erinnert noch heute an den Architekten des Neubaus: George Gilbert Scott (1811–1878). Ein anderer Name bleibt unerwähnt: Gottfried Semper (1803–1879). „Der weltberühmte Architekt der Dresdner Oper hätte die Kirche eigentlich bauen sollen, doch er wurde ausgestochen“, sagt Kristine Goddemeyer, Geschäftsführerin des Förderkreises Mahnmal St.Nikolai. „Unter Semper wäre es ein moderner Kuppelbau geworden, kein gotischer.“

Sempers Name ist so sehr mit Dresden verbunden, dass kaum jemand weiß, dass er Hamburger war. Und so war der damals 40-Jährige natürlich bemüht, den Auftrag für den Neubau des Gotteshauses zu bekommen, das zu den fünf großen „Hauptkirchen“ Hamburgs gehörte. Damals wie heute gab es in solchen Fällen eine Ausschreibung – die Semper gewann. Doch damals wie heute muss das Ergebnis einer Ausschreibung noch nicht das letzte Wort sein.

„Es gab zu dieser Zeit zwei große Strömungen in der lutherischen Kirche in Hamburg: eine moderne, aufklärerische und eine pietistische, konservative, die gerade in der Nikolaigemeinde sehr stark war“, erzählt die Kennerin dieses historischen Ortes. Und diese Gruppe wollte sich mit der Entscheidung der Expertenjury nicht abfinden. Der Kirchenvorstand bat den Kölner Dom-Baumeister Ernst Friedrich Zwirner (1802–1861), zum Ausschreibungsergebnis Stellung zu nehmen. In Köln hatte man 1842 damit begonnen, den gotischen Dom, an dem seit mehr als 300 Jahren nicht mehr gebaut worden war, endlich fertigzustellen. Und natürlich bevorzugte Zwirner den gotischen Baustil. Semper versuchte von Dresden aus über Gewährsleute, das Schlimmste zu verhindern. „Doch der Hamburger Kirchenvorstand revidierte das Ergebnis der Experten-Jury und setzte den Entwurf des britischen Architekten Scott auf Platz eins“, erzählt Kristine Goddemeyer.

Die so kaltgestellten Jurymitglieder protestierten – ohne Erfolg. Theodor Bülau (1800–1861), nach dessen Entwurf gerade die benachbarte Patriotische Gesellschaft gebaut wurde, fand in einem Brief an Semper klare Worte: „Der Teufel hole sie alle ...“

Das Ergebnis war eine neogotische Kathedrale, die den Ansprüchen der evangelischen Kirchenlehre in keiner Weise gerecht wurde. Die Kapelle, in der in katholischen Kirchen Heiligenbilder aufgestellt sind, wurde ebenso wenig genutzt wie der Chorraum. Die Kanzel war nicht zentral, sondern wurde an einem der großen Stützpfeiler angebracht. „Sempers Entwurf sah eine zentrale Kanzel vor, sodass kein Gottesdienstbesucher weiter entfernt als rund 20 Meter gesessen hätte“, erläutert Goddemeyer.

So aber erhielten die Hamburger Protestanten eine „katholische“ Kirche. Die Fertigstellung hat keiner der Protagonisten mehr erlebt. Immer wieder gab es Bauunterbrechungen, weil es an Geld fehlte. Noch heute kann man im Kellergewölbe große Weinregale sehen, denn dort wurde ein Weinlager eingerichtet, um Geld zu erwirtschaften.

Nach der Grundsteinlegung 1846 dauerte es 13 Jahre bis zum Richtfest für das Kirchendach, weitere 15 Jahre bis zur Turmweihe, bis die Kirche mit der Orgeleinweihung 1891 endlich vollendet war. Doch es lag weiter kein Segen auf dem Bau. Genau 100 Jahre nach dem Abbruch der Brandruine 1843 wurde die Kirche durch britische und amerikanische Bomben zerstört. Und große Teile dessen, was noch übrig war, wurden in den 1950er-Jahren aus Sicherheitsgründen gesprengt.