Der Fall der beiden Kinderleichen im Schließfach wird immer mysteriöser. Die Verdächtige habe die Schwangerschaft verheimlicht. Experten versuchen eine Antwort zu geben auf die Frage „Warum?“.

Hamburg/Lübeck. Die 39-Jährige, die verdächtigt wird, zwei Säuglinge getötet und in einem Schließfach im Hauptbahnhof deponiert zu haben, ist verheiratet und bereits Mutter von drei Kindern. Nach dem Fund der beiden Babyleichen wollen die Ermittler nun klären, ob die Frau aus Bad Schwartau tatsächlich die leibliche Mutter der beiden toten Neugeborenen ist. Dazu wurde ein DNA-Test in Auftrag gegeben, mit dessen Ergebnis aber erst in der kommenden Woche gerechnet wird, sagte Ralf-Peter Anders, Sprecher der Lübecker Staatsanwaltschaft.

Die Erkenntnislage ist bisher recht dünn: Nach der rechtsmedizinischen Untersuchung steht nicht mit Sicherheit fest, wie lange die beiden toten Neugeborenen im Schließfach gelegen haben, ob sie gewaltsam getötet wurden oder ob sie bereits tot zur Welt gekommen waren. In den Körpern hatten sich so starke Fäulnisgase gebildet, dass nicht mehr festgestellt werden konnte, ob ihre Lungen bereits belüftet waren – ob die Neugeborenen bereits geatmet hatten. Bei Totgeburten können Mütter nicht strafrechtlich belangt werden.

Ralf-Peter Anders konnte auch weder sagen, ob die beiden Kinder schon länger in dem Koffer gelegen hatten, noch, ob der Koffer tatsächlich erst am vergangenen Dienstag in dem Schließfach am Hamburger Hauptbahnhof deponiert wurde. Sicher ist zurzeit nur, dass die Tatverdächtige an jenem Tag von der Polizei in Bad Schwartau auf ihre vorangegangene Schwangerschaft angesprochen wurde. Sie sollte sich tags darauf einer gynäkologischen Untersuchung unterziehen, aber sie tauchte unter und wurde schließlich von Beamten der Lübecker Mordkommission auf der Mönckebergstraße festgenommen.

Wie das Abendblatt erfuhr, haben die Ermittler inzwischen mindestens einen weiteren Ort ausgemacht, an dem die Frau die beiden Babyleichen gelagert haben muss, bevor sie sie in den Hauptbahnhof gebracht hatte. Darüber hinaus handelt es sich bei der Bad Schwartauer Zeugin, die der Polizei den entscheidenden Tipp gegeben hatte, ausgerechnet um die Mutter der 39 Jahre alten Verdächtigen. Genaue Aufschlüsse zu den Geburten und den Todesursachen erhofft sich die Staatsanwaltschaft jetzt von den weiteren Ermittlungen. Dazu zählt auch eine weitere feingewebliche Untersuchung.

Die Mutter dreier Kinder befindet sich derzeit in einer Lübecker Klinik für Psychiatrie. Sie hatte sich freiwillig einweisen lassen. Laut Staatsanwaltschaft habe Suizidgefahr bestanden. Aufgrund der dünnen Beweislage hätten die Behörden aktuell jedoch keine Handhabe gegen die Frau. Sie könne sich frei bewegen, sollte sie die Psychiatrie verlassen. Ein dringender Tatverdacht bestehe derzeit nicht, sagte Sprecher Anders mit Blick auf das Obduktionsergebnis.

Dieser neuerliche Fall von wahrscheinlicher Kindstötung hat einmal mehr bundesweit für Entsetzen gesorgt. Die Psychologin und Juristin Annegret Wiese hat bereits vor 20 Jahren „Mütter, die töten“ interviewt und ein gleichnamiges Buch veröffentlicht. Eine ihrer Kernthesen lautet, dass es sich bei den Täterinnen vor allem um Frauen handelt, die am „Mythos Mutterliebe“ gescheitert seien, sowie um Mädchen, die von ihren Müttern selber nicht geliebt wurden, aber die perfekte Mutter sein wollten. Doch als sie dann erkannt hätten, dass sie dem hohen Mutterideal in dieser Gesellschaft (und nicht zuletzt ihrem eigenen Anspruch) nicht gerecht werden können, töteten sie ihre Kinder, denn der Aufenthalt im Himmel sei „besser für das Kind, als mit einer schlechten Mutter zu leben“. Häufig folge die Mutter wenig später ihrem Kind; in solchen Fällen sprechen Juristen von erweitertem Selbstmord.

Es gibt wenig verlässliche Daten. Eine Ausnahme bildet eine Studie des Deutschen Jugendinstituts („Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland“), die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums Fälle von Kindstötungen aus den Jahren 2009 bis 2012 genauer untersucht. Denn seit der Abschaffung des § 217 StGB im Jahre 1998, der die Tötung von nicht ehelichen Neugeborenen durch die Mutter unter Strafe stellte, werden Neonatizide (Tötungen von Neugeborenen) in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht mehr gesondert erfasst.

„Die inzwischen vorgenommene Altersdifferenzierung bei Tötungsdelikten an Kindern unter sechs Jahren ist sehr grob und ermöglicht keine detaillierte Auswertung der Fallzahlen“, sagt die Kriminologin Stephanie Wolpert, 37, die für die gemeinnützige Hamburger Einrichtung SterniPark arbeitet, die die Projekte Findelbaby, Babyklappe und die Initiative für eine anonyme Geburt betreut. „Doch wir können guten Gewissens sagen, dass die Zahl der Kindsaussetzungen und Kindstötungen in Hamburg mit der Einführung der Hotline im Dezember 1999 und der Babyklappe im April 2000 zurückgegangen ist“, sagt SterniPark-Geschäftsführerin Leyla Moysich, 34.

Von den bisher insgesamt 45 abgelegten Neugeborenen konnten 29 als Adoptionskinder vermittelt werden. „16 Kinder wurden im Laufe der Beratungs- und Bedenkzeit den Müttern wieder zurückgegeben. Berlin und München, wo es ebensolche Einrichtungen gibt, melden ähnliche Erfolge.“

Doch das Herzstück des Vereins sei inzwischen das kostenlose Notruftelefon Findelbaby (0800/4560789), das schwangeren Frauen bundesweit rund um die Uhr zur Verfügung stehe. „Wir fragen weder nach dem Namen, noch stellen wir irgendwelche Bedingungen. Das primäre Ziel ist zunächst die bedingungslose Hilfe. Die Frauen können bei uns wohnen, in einem Krankenhaus anonym entbinden und sich danach ganz in Ruhe entscheiden, wie es für sie und ihr neugeborenes Kind weitergehen soll.“ Über 500 Frauen habe man bisher auf diese Weise unterstützt.

Es gebe zahllose Gründe, warum Frauen eine Schwangerschaft sogar ihren Partnern erfolgreich verheimlichen: einen Seitensprung, eine Vergewaltigung, die Angst vorm Versagen. „Es gibt die These, dass Schwangerschaften auch nach innen wachsen können“, sagt Leyla Moysich, „darüber hinaus aber bandagieren die Frauen den Leib, tragen weite Kleider, essen sich rund und gehen oftmals auch in gebückter Haltung. Insgesamt ist so eine Schwangerschaft wahnsinnig anstrengend. Und wenn dann die Wehen einsetzen und das Kind auf die Welt kommt, dann muss es weg, weil sich ja sonst der ganze Aufwand nicht gelohnt hat.“ Die Erfahrung habe gezeigt, dass die meisten Frauen ihre heimlich geborenen Kinder nicht einmal bewusst töteten, sondern einfach ihrem Schicksal überließen. „Häufig wollen sie den Kindern nichts Böses. Und in ihrer Not eint alle diese schwangeren Frauen eins“, sagt Leyla Moysich, „sie schämen sich.“