In Hamburg leben etwa 3000 Juden; kommende Woche feiert die Gemeinde das Jahr 5775. Aus diesem Anlass besuchte das Abendblatt die Joseph-Carlebach-Schule – früher Zeuge schrecklichen Unrechts, heute ein Zeichen von Hoffnung und Neubeginn

Die Fröhlichkeit wird gut gesichert. Von zwei Polizisten, einem hohen Zaun sowie einem mehrstufigen Zugangsprozedere: Zunächst klingelt der Besucher, das Tor zum Grindelhof 30 öffnet sich, nach ein paar Treppenstufen betritt man eine Schleuse. „Kein Handy, kein Fotoapparat“ bestimmen die Hinweisschilder. Hinein in einen gläsernen Kasten, die Schiebetür schließt sich, doch die zum Inneren des Gebäudes geht nicht auf. Und nun? Eine Stimme aus dem Off fragt: „Wer sind Sie, und zu wem möchten Sie?“ Wer Jim Carrey in „Die Truman Show“ gesehen hat, kann sich ungefähr vorstellen, wie hilflos der Besucher nach oben schaut. Wer spricht da? Und in welche Richtung soll man antworten? Am besten nach links zu dem verspiegelten Fenster, wie es sie auch beim Zoll gibt. Gut, wir sind angemeldet und dürfen eintreten. Und dann, nach der kleinen Einlass-Irritation, wird man in der Eingangshalle mit einer Fröhlichkeit empfangen, die eben nur Kinder draufhaben. Laut, wild, unschuldig, von Herzen. Hier pocht so viel Leben! Das kann deshalb als etwas Besonderes gelten, weil diese jüdische Schule schon einmal gestorben ist. 1939 schlossen die Nazis den Lehrbetrieb. Das Lachen musste den Tränen weichen, doch die Fröhlichkeit ist – mehr als ein halbes Jahrhundert später – zurück.

141 Kinder lernen in der Joseph-Carlebach-Schule, die früher, in ihrem ersten Leben, Talmud-Tora-Schule hieß. 2007 wurde sie mit zwölf Kindern wiedereröffnet, keine andere Hamburger Schule erfreut sich seither so großer Zuwachsraten. Nach und nach werden immer mehr Räume des vierstöckigen Gebäudes belegt, die Schule wächst langsam, aber sicher in das Gebäude und in ihre Rolle hinein. „Unsere Schule beruht auf einer alten Tradition, aber eigentlich ist alles neu. Wir hoffen, eine neue Form des Judentums installieren zu können, denn die alte existiert leider nicht mehr, sie wurde ausgelöscht“, sagt Rektor Gerd Gerhard. Seit 2010 führt der 56-Jährige die Einrichtung der jüdischen Gemeinde, die nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland eine Seltenheit darstellt. Nur zehn jüdische Schulen gibt es in unserem Land. Zum Vergleich: In den 30er-Jahren waren es noch etwa 200.

Das Thema Sicherheit gehört wohl oder übel zum Schulbetrieb dazu

Gerhard ist Katholik, kein Jude, wie auch die meisten seiner Kollegen nicht. Das Haus steht jeder Religion offen. Die deutsch-jüdische Symbiose, die durch die nationalsozialistische Rassenpolitik zerstört wurde, hier vollzieht sie sich reibungslos. Nur die Hälfte der Schüler sind jüdisch, manche katholisch, manche evangelisch, viele konfessionslos, aber alle müssen am Religions- und Hebräisch-Unterricht teilnehmen sowie am Morgengebet. Es findet nach der zweiten Stunde statt; der Lärm ist ohrenbetäubend. Die Kinder schmettern die hebräischen Zeilen durch den Raum.

Nach der Pause wird in Klasse 4b über das Neujahrsfest gesprochen, das in diesem Jahr am 25. und 26. September stattfindet. Rosch ha-Schana gehört nach Jom Kippur zu den höchsten jüdischen Feiertagen. Die Kinder schauen sich das Bild eines gedeckten Tisches an. Traditionell werden zum Neujahr runde Brote gereicht, Apfelscheiben in Honig gedippt und Granatäpfel gegessen. „Warum?“, fragt die Lehrerin, und elf Finger schnellen in die Höhe. Mehr Kinder hat die Klasse nicht. Die Joseph-Carlebach-Schule setzt auf kleine Gruppen. Zuerst darf Riki antworten: „Der Granatapfel hat so viele Kerne, wie das Jahr Tage hat.“ Elias weiß, dass Brot und Honig für ein rundes, süßes Jahr stehen sollen. Außerdem liegt ein Fischkopf auf dem Tisch. Er wird symbolisch mit den Worten gegessen: „Möge es dein Wille sein, dass wir zum Kopf und nicht zum Schwanz werden.“ Hä? Die Schüler stehen der Allegorie ratlos gegenüber. Sie soll eigentlich den Wunsch ausdrücken, im nächsten Jahr schnell und auf Zack zu sein, den Dingen voranzugehen. Noa guckt ungläubig auf den Fischkopf und sagt dann: „Aber Fische sind doch überhaupt nicht schlau!“ Kinderlogik versus religiöse Tradition = 1:0.

Wer als Besucher einen Blick in die Klassen werfen darf, sieht schnell Rosa. Rosa Schulranzen, rosa Ballerinas, rosa Loom-Armbänder, die in jeder Pause von den Mädchen geknüpft werden. Bei den Jungs überwiegen blaue Basecaps. Der neunjährige Yakoov trägt darunter seine Kippa. „Zum Essen und zum Gebet ist das Tragen Pflicht, man tritt Gott nicht unverhüllten Hauptes entgegen“, erklärt Yakoov. Er spielt mit den traditionellen Stofffäden an seiner Kleidung, den Zizit, und sagt, dass er gerne Jude sei. Blöd fände er nur, dass er wegen der strengen Speiserichtlinien nie zu McDonald’s gehen könne. „Aber letztens war ich in Jerusalem, da gibt es den einzigen koscheren McDonald’s auf der ganzen Welt.“ Yakoov erzählt stolz, dass er für seine Eltern vor Ort übersetzen konnte, weil er schon so gut Hebräisch gelernt habe. Plötzlich kippt die kindliche Begeisterung; Yakoov scheint über seinen Urlaub nachzudenken und sagt schließlich: „Ich weiß, warum die Araber die Israelis so doll hassen: weil sie ihr Land haben. Deshalb wollen die Araber die Israelis kaputt schlagen.“ Ein Satz wie ein Schuss. Gerade noch hatte man den Eindruck, sich in einer ganz normalen Schule zu befinden. Was für eine Illusion; die Gefahr wartet draußen vor der gesicherten Eingangstür.

„Ich bin ganz gut im Verdrängen. Mit Angst könnte ich nicht jeden Tag hierhergehen“, sagt Bernhard Effertz, Vorstandsvorsitzender der jüdischen Gemeinde Hamburg, die ihre Büros ebenfalls am Grindelhof 30 hat. Effertz scheint sehr beliebt zu sein bei den Kindern, vor allem die 2. Klasse zählt zu seinem Fanclub. Trifft er die Schüler auf dem Flur, zeigen sie ihm ihre neuesten Playmobilfiguren oder weisen den 68-Jährigen darauf hin, dass er sich nicht rasiert habe. Effertz’ Eltern waren im KZ, doch darüber möchte er nicht reden, er will nach vorne blicken. Dennoch: Das Thema Sicherheit gehört wohl oder übel zu seiner täglichen Arbeit. Effertz ist gut verzahnt mit dem Staatsschutz und dem LKA. Bei einer verschärften Sicherheitslage positioniert die Innenbehörde mehr Polizisten vor dem Gebäude. Das interessiert die Schüler wenig, auch an den Gang durch die Schleuse hat sich jeder längst gewöhnt. Aber wenn Rektor Gerhard verbietet, in den Pausen auf dem Schulhof zu spielen, dann fangen die Schüler an zu murren. „Leider sind solche Anordnungen nicht übertrieben“, sagt Gerhard. „Antisemitismus bleibt ein großes Thema in unserer Gesellschaft.“ Man müsse die Bewachung positiv sehen, findet der Schulleiter. „Wir befinden uns hier an einem der sichersten Plätze Hamburgs.“

Heute das sicherste Gebäude der Stadt, war es früher Zeuge von grausamem Unrecht. Mehr als 350 Kinder und Lehrer der Talmud-Tora-Schule wurden deportiert und ermordet. Ihre Namen stehen im Eingangsbereich auf einer Tafel. An der Decke sieht man ein Kunstwerk aus Scherben, das an die Reichspogromnacht erinnert. Eine Büste von Joseph Carlebach, nach dem die Schule benannt wurde, blickt einem freundlich entgegen. Mit Betonung auf freundlich, denn zu seiner Zeit waren Lehrer alles andere. Zucht und Ordnung herrschte in den Klassenzimmern, und die Rohrstöcke kreisten, bis Carlebach 1921 die Leitung der Talmud-Tora-Realschule übernahm. Der Pädagoge war seiner Zeit weit voraus. Er ging davon aus, dass jedes Kind seine eigene Begabung habe, die individuell gefördert werden müsse. Von militärischem Drill hielt er gar nichts. Unter den Kollegen warb er für ein neues, freundschaftliches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Dies und seine Begeisterung für den Lernstoff führten dazu, dass er von den Kindern verehrt wurde. „Wenn er die Klasse verließ, blieben die Jungen völlig gebannt zurück“, erinnert sich ein Zeitzeuge in der Biografie „Joseph Carlebach“ von Andreas Brämer.

Carlebach, der später Oberrabbiner wurde, muss ein beeindruckender Mensch gewesen sein, der Glauben und Erziehung aufs Beste miteinander zu verbinden versuchte. „Die jüdische Schule ist uns eine absolute Notwendigkeit, weil nur durch sie das Problem der doppelten Kulturaufgabe, der jüdischen und allgemeinen, bewältigt, und die Synthese, die Harmonie zwischen Judentum und Weltbürgertum möglich ist“, schrieb er in einer seiner Publikationen. Jüdische Erziehung definierte der Pädagoge als eine Voraussetzung für die Erhaltung der Glaubensgemeinschaft: „Schulkinder sind Messiasse, Lehrer sind Propheten des Messiasreiches.“ Carlebach wurde 1941 deportiert und ein paar Monate später in einem Wald bei Riga gemeinsam mit seiner Frau und drei Töchtern erschossen.

„Würde ich den Geist von damals noch spüren, das würde mich erschlagen“, sagt Bernhard Effertz. Lächelnd und versöhnt blickt er einen an. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde hat die vielleicht beste Form der Vergangenheitsbewältigung gewählt: den Neuanfang. 2020 könnten die ersten Schüler – heute sind sie in der 8. Klasse – Abitur machen. „Für den Fortbestand des Glaubens ist diese Schule überlebenswichtig“, sagt Effertz. „Hier bilden sich Freundschaften fürs Leben.“

Wie die zwischen Lilia und Abigajil. Die Mädchen sind in der 7. Klasse, die eine Christin, die andere Jüdin. Unterschiedliche Religionen seien toll, finden beide, denn dadurch hätten sie viel mehr Themen, über die sie sprechen könnten, „nicht nur über Jungs und Lehrer“. Sie sitzen beim Mittagessen. Vor ihnen stehen blaue Teller, das bedeutet, dass es heute eine milchige Speise gibt. Nach den jüdischen Essensregeln müssen sie streng von fleischigen Speisen (sie kommen auf rote Teller) getrennt werden. Im Keller gibt es daher nicht nur eine, sondern zwei komplett ausgestattete Küchen.

Die Mädchen beten und danken auf Hebräisch für das Essen. Lilia löffelt ihren Milchreis und erklärt, warum sie in der dritten Klasse auf die Joseph-Carlebach-Schule wechselte. Vorher habe sie oft allein auf dem Schulhof gestanden. Hier sei sie gleich am ersten Tag gefragt worden, ob sie mitspielen wolle. Abigajil steht jeden Tag um 6 Uhr auf, um von Schleswig-Holstein rechtzeitig hierherzukommen. Ihr Opa fährt sie und ihre Cousins. Ob nicht eine Schule näher an ihrem Wohnort infrage käme? Nein, denn hier gebe es keinen Rassismus. „Manche Menschen sind ja gegen meinen Glauben“, sagt Abigajil fast entschuldigend und blickt von oben auf den Platz neben der Schule, wo früher die Bornplatzsynagoge stand. Bis 1938 war sie die größte Synagoge Norddeutschlands. Mit am Tisch sitzt eine weitere Freundin. Für sie ist die Schule wie eine kleine Familie: „In Russland war mein Papa als Jude ein Außenseiter und wurde in den Pausen verprügelt. Hier gibt es keine Außenseiter.“

Bekommt HaSchem wirklich alle Briefe, die wir an ihn schicken?

Das freundschaftliche Verhältnis der Schüler überträgt sich auf die Lehrer. Viele bleiben länger, als sie müssen, dabei dauert der Unterricht schon fast den ganzen Tag – bis 16 Uhr. Die Kinder wuppen eine 40-Stunden-Woche. Christliche Feiertage wie Weihnachten werden nicht gefeiert, die Ferientage sind anders verteilt als bei staatlichen Schulen. Die Gebete strukturieren den Tag. „Gerade in der Grundschule ist ein klarer Rhythmus wichtig“, erklärt Hendrikje Kreuzburg, Klassenlehrerin der 4b. Neben ihrem Pult hängen die Namen ihrer Schüler auf einer Tafel mit den Farben Blau, Grün, Gelb, Rot. Das Motto in jeder Woche lautet: „Bleibe auf Blau!“ Wer sich schlecht benimmt, rückt eine Farbe vor. Arbeitet der Störenfried am nächsten Tag besonders fleißig mit, gelangt er wieder eine Farbe zurück. Am Freitag sollte sich jeder Name auf dem blauen Feld befinden. Das Farbenspiel scheint zu funktionieren. Nur drei Kinder stehen auf Grün.

Letzte Stunde. Religion in Klasse 4a bei Miriam Kohan, die die Kinder keineswegs Frau Kohan nennen. „Miriam, darf ich das Schofarhorn blasen?“, fragt Dominique. Ja, doch das fällt gar nicht so leicht. Das Instrument wird aus Widderhorn gefertigt. Es war schon im Altertum in Gebrauch und wird heute noch in der Synagoge verwendet. Im Elul, dem letzten Monat des Jahres im jüdischen Kalender, hört man seinen Klang sehr häufig. „Wieso gerade in dieser Zeit?“, fragt die Lehrerin. Dominique weiß die Antwort: „Es soll uns aufrütteln, damit wir uns fragen, ob wir uns noch bei irgendjemandem entschuldigen müssen.“ Elul gilt als Monat der Gnade und des Vergebens. Dann hat man noch Zeit, Buße zu tun. Zum Beispiel durch gute Taten. Lehrerin Miriam Kohan erklärt, dass Spenden zu den guten Taten gehören und man einen Teil seines Geldes abgeben sollte. In der ersten Reihe regt sich Protest. „Getränkeautomaten sollte man nie etwas geben,“ sagt Isabel. „Man bekommt häufig nichts zurück. Der Apparat in meinem Supermarkt schuldet mir drei Euro!“ Die Kinder lachen. Michelle hat eine wichtige Frage: „Wie zeigt eigentlich jemand Reue, der in seinem Herzen ein schwarzes Loch hat?“ Hmm. Er wäre in jedem Fall nicht auf dieser Schule.

Im Monat Elul schreibt man auch Wünsche für das nächste Jahr auf. „Aber ich glaube langsam, dass HaSchem gar nicht alle Briefe bekommt“, sagt Anton. Die Juden sagen HaSchem als Bezeichnung für Gott, weil sie seinen Namen nicht aussprechen. „Letztes Jahr habe ich mir gewünscht, dass sich meine Eltern nicht mehr streiten. Tun sie aber noch“, sagt ein Mädchen. Michelle entgegnet: „Vielleicht hat die Post gestreikt, und dein Wunsch ist noch gar nicht zugestellt.“

Ein Brief sollte HaSchem auf jeden Fall erreichen: „Wir wünschen uns, dass diese Schule eines Tages ohne Gitter und ohne Polizeischutz auskommt.“ Mal sehen, ob auch Träume verschickt werden.