Olivia Jones, Deutschlands bekannteste Dragqueen, hat auf St. Pauli ein beachtliches Imperium aufgebaut – mit ihren vier Betrieben und den beliebten Stadtrundgängen. Ihren Erfolg hat sie mit viel Ehrgeiz vorangetrieben

Ein wenig erinnert sie gerade an die Queen: Olivia Jones steht auf der Brüstung ihres Biergartens am Spielbudenplatz und blickt freudig lächelnd hinunter auf die Straße. Ihre Anhänger drängen sich dicht an dicht, sie rufen und winken. Smartphones und Kameras werden in die Höhe gereckt, jeder will noch ein bisschen näher ran. Als die Königin schließlich mit ihrem Hofstaat die Stufen herabschreitet, gibt es für viele kein Halten mehr. Zwei Sicherheitskräfte bahnen Olivia Jones den Weg durch die Menge.

Es ist Sonnabend, 19 Uhr, auf dem Kiez. „Haupterntetag“, wie Olivia sagt. Für die Gastronomen und Gewerbetreibenden auf St. Pauli ist es der wichtigste Tag der Woche. Die Straßen sind voll bis überfüllt, vor allem wenn Olivia um die Ecke kommt. Ihre Kieztour (Preis: 45 Euro) ist wie jeden Freitag und Sonnabend seit Monaten ausgebucht. 38 Teilnehmer haben heute das Glück, sie an diesem Abend anderthalb Stunden hautnah erleben zu dürfen. „Für mich geht ein Traum in Erfüllung“, sagt Beate Wilhelm aus Karlsruhe. Wie viele andere hat auch sie den Weg nach Hamburg auf sich genommen, um der prominenten Dragqueen (die Red.: ein Mann, der weibliche Kleidung trägt und mit Humor, auf kunstvolle Weise, das Verhalten einer Frau darstellt) einmal ganz nah zu sein.

Olivia Jones, 44, ist ein Phänomen auf dem Kiez. Seit die „Miss Dragqueen of the World“ von 1997 vor gut acht Jahren mit ihren Reeperbahnrundgängen begann, hat sie einen beachtlichen Aufstieg hingelegt. Mit „Olivias Kiez Oase“, ihrem schrill-pinkfarbenen Biergarten am Spielbudenplatz, hat Olivia Jones bereits ihren vierten Laden auf dem Kiez eröffnet. 2008 eröffnete sie mit der „Olivia Jones Bar“ ihren ersten Betrieb an der Großen Freiheit. Zwei Jahre später folge mit „Olivias Wilde Jungs“ die erste Menstrip-Bar auf St. Pauli, in der nur Frauen Zutritt haben. 2012 eröffnete sie in unmittelbarer Nachbarschaft „Olivias Show Club“ für Travestie, Burlesque und Comedy.

Hinzu kommen ihre Kieztouren: Zehn Tourguides führen an fünf Tagen in der Woche neugierige Touristen über die „sündige Meile“. Rund 1000 Touren und Hafenrundfahrten mit etwa 32.000 verkauften Tickets wurden für das vergangene Jahr bilanziert. Circa 100 Künstler und Mitarbeiter stehen mittlerweile auf ihrer Gehaltsliste. Damit gehört die Kult-Transe zu den größten Arbeitgebern im Viertel. Ein Konzern, der immer weiter wächst.

Während vor 30 Jahren noch bekannte Zuhältergruppierungen wie „GMBH“ oder „Nutella-Bande“ den Ton angaben, regiert 2014 eine gut zwei Meter große Transe die Meile. Bekannte Milieugrößen, die früher gleich mehrere Frauen auf dem Kiez für sich anschaffen ließen, klopfen heute an ihre Tür und bitten um einen Job. Zeitenwandel auf St. Pauli.

Ein Wandel, der fast zeitgleich mit dem Aufstieg von Olivia Jones erfolgt ist, und die in nicht unerheblichem Maß selbst dazu beigetragen hat. Manch einer behauptet sogar, Olivia habe der Meile eine neue Identität gegeben, die mit dem Ende der Rotlichtzeit lange nach einem neuen Selbstverständnis suchte. „Olivia Jones bringt Flair auf die Meile“, sagt Fabian Zahrt, Koberer des ehemaligen Nachtclubs Safari an der Großen Freiheit. „Sie gibt dem Ganzen neues Leben, der Kiez wird bunter und schriller durch sie.“ Auch der Chef des Schmidt Theaters an der Reeperbahn, Corny Littmann, lobt: „Sie ist eine Bereicherung für den Stadtteil.“ Der Theaterchef erinnert sich noch gut an den jungen Oliver Knöbel, der 1989 im Alter von 20 Jahren nach St. Pauli kam und nur wenige Jahre später – nach dem Abbruch einer Lehre als Versicherungskaufmann – seine ersten großen Auftritte in der „Schmidt Mitternachtsshow“ gab. „Olivia war eine Erscheinung“, sagt Littmann. „Ihre wahnwitzigen Kostüme und ihre freche Schnauze haben mich immer beeindruckt.“

Bereits in der Schulzeit an der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Springe bei Hannover machte Oliver keinen Hehl aus seiner Neigung und ging auch gerne mal im Fummel zur Schule – zum Entsetzen seiner Mutter, die gelegentlich beim Rektor vorsprechen musste. „Das ist eine Persönlichkeitsstörung, die ich wunderbar ausleben kann“, sagt Knöbel, der ungeschminkt mit seinen kräftigen Oberarmen, dem Zweitagebart und seinen blonden Stoppelhaaren keinerlei Ähnlichkeit mit der prominenten Kult-Transe hat. Einzig die Stimme verrät ihn. „Andere haben ihre Pillen, ich Olivia. Mit ihr kann ich alles machen, was ich privat niemals machen würde.“ Er lebt und liebt das Anderssein. „Normal kann ja nun jeder.“

Nach ihren Anfängen im Schmidt Theater oder dem Pulverfass-Cabaret baute Olivia ihre Fähigkeiten immer weiter aus, nahm Sprechtraining und Schauspielunterricht und kämpfte sich Stück für Stück ins Licht der Öffentlichkeit. Immer wieder nutzte die „Multifunktionstranse“, wie sie sich zuweilen nennt, ihre Popularität in den vergangenen Jahren auch für politische Statements. Ihre Kandidatur bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2004 gegen Ronald Schill oder ihr Einsatz als Reporterin beim NPD-Parteitag für das NDR-Satiremagazin „extra 3“ brachten ihr großen Respekt ein. „Ihr Erfolg kam nicht von heute auf morgen, sondern hat sich über die Jahre entwickelt“, sagt Littmann.

Während andere Prominente in den 1990er-Jahren massenhaft in die neue Szenestadt Berlin abwanderten, um dort ihre Karriere voranzutreiben, blieb Olivia Jones dem Kiez treu. „Ich habe immer gesagt: St. Pauli wird einmal das Las Vegas von Deutschland.“ Sie sollte recht behalten, auch wenn sie diese Entwicklung heute mit gemischten Gefühlen sieht. Der Kiez im Jahr 2014 ist in erster Linie eine Party- und Eventmeile. Diskotheken haben die alten Live-Sex-Cabarets ersetzt, ranzige Strip-Schuppen weichen Hotels und glamourösen Cocktailbars und auch die Zahl der Prostituierten ist in den vergangenen 30 Jahren auf dem Kiez deutlich zurückgegangen. Stattdessen bevölkern Touristengruppen und Junggesellenabschiede die Meile. Das Geschäft mit sogenannten Reeperbahnrundgängen boomt. Was vor gut zehn Jahren als Nischenangebot weniger Stadtführer begann, ist mittlerweile ein ganzer Berufszweig geworden. „Olivia war zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Idee“, fasst ihr Manager Philip Militz zusammen.

Auch wenn Olivia Jones bei Weitem nicht die Erste war, die solche Führungen initiierte, hat ihr großer Erfolg einen wahren Boom ausgelöst. „Als wir zur Fußball-WM 2006 damit begonnen haben, hätten wir nie gedacht, wie sich das entwickelt“, sagt Olivia. Lief sie anfangs noch allein und nur unregelmäßig, so hat sie ihre Touren über die Jahre immer weiter ausgebaut. Mittlerweile gehören neun weitere Guides, darunter Schauspielerin Tanja Schumann oder Travestie-Star Lilo Wanders zu ihrem Team.

Ihre Touren beschreibt Olivia Jones als „betreutes Unartigsein“ und „Stand-up-Comedy mit Aufklärungscharakter“. „Für viele ist St. Pauli immer noch mehr berüchtigt als berühmt. Ich habe einige Gäste, die sich hier ohne uns nicht auf die Piste oder zum Beispiel in einen Sexshop trauen würden“, sagt Olivia. „Wir spielen zwar mit Klischees, klären dann aber auch über den Wandel auf und brechen mit Vorurteilen. Unsere Gäste nutzen unsere Touren auch nicht als betreutes Gaffen, sondern als Orientierungshilfe, um zu schauen, wo sie abends noch hingehen können.“

Die Zahl ihrer Gäste steigt unaufhaltsam. Im kommenden Jahr soll das Team noch einmal vergrößert werden. Gespräche mit entsprechenden Kandidaten, deren Namen noch streng vertraulich sind, laufen bereits.

Doch der Erfolg von Olivia Jones ist keinesfalls nur ein glücklicher Zufall, der aus der stetig wachsenden Popularität St. Paulis und den damit verbundenen Besucherzahlen resultiert. „Sie hat immer fleißig daran gearbeitet, im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen, hat keine Kosten und Mühen gescheut, um bekannt zu werden“, sagt Corny Littmann. So selbstironisch Olivia Jones mit sich umgeht, so ernst nimmt Oliver Knöbel seine Arbeit. Einer Einladung des Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue für diesen Herbst erteilte Olivia mit Verweis auf ihre Kiezführung an diesem Abend eine Absage. Fleiß und Disziplin sind ihr Erfolgsrezept.

Das fängt bereits bei der Ernährung an. Zum Abendessen gibt es bei unserem ersten Gespräch Fisch mit Gemüse, dazu einen Salat. Die Croûtons bleiben liegen – Olivia muss in Form bleiben.

Wer versucht, den Mythos Olivia Jones zu erklären, darf nicht vergessen, dass hinter dem schrillen Paradiesvogel vor allem auch ein starkes Team steht. Allen voran Manager Philip Militz, der mit Olivia Jones seit fast zehn Jahren zusammenarbeitet. Es ist kaum verwunderlich, dass ihr Aufstieg in diese Zeit fällt. Durch sein Netzwerk und seine Kontakte versteht Militz es, Olivia und ihre gesamte Kiez-Familie immer wieder prominent in den Medien zu platzieren. Ob „Frauentausch“, „Wetten, dass..?“ oder „Dschungelcamp“ – wer als Tourguide bei der Dragqueen einsteigt, muss vor allem eines: vor die Kamera, um jeden Preis.

Der Erfolg der Chefin gibt der Strategie recht. Seitdem die Dschungel-Kämpferin Olivia Jones im vergangenen Jahr die RTL-Sendung „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ mit Herz und rauem Charme erfolgreich absolvierte, haben die Anfragen laut Militz deutlich zugenommen, die Gagen sich fast verdoppelt.

Während andere Prominente solche Formate als letzten Ausweg sehen, um ihrer verdorrten Karriere noch einmal Leben einzuhauchen, kann Olivia dank ihres erfolgreichen Kiez-Business entspannt an die Sache rangehen. „Man darf solche Formate nicht aus Verzweiflung machen, nur um auf jeden Fall stattzufinden“, sagt Jones. „Ich liebe Trash. Je schwachsinniger die Fernsehshows sind, desto mehr reizen sie mich.“ Eine Einstellung, die anscheinend beim Zuschauer ankommt und ihren Beliebtheitsgrad immer weiter in die Höhe treibt – und auch ihren Umsatz auf dem Kiez fördert.

Ihre Fans reisen aus allen Teilen des Landes nach St. Pauli, um ein gemeinsames Foto mit der schrillen Kult-Transe zu bekommen. Wer an einem späten Sonnabend im Hinterhof ihres Show Clubs an der Großen Freiheit steht, fühlt sich an Zeiten erinnert, in denen große Rockmusiker im nahe gelegenen Star-Club von ihren Fans belagert wurden. Es wird geschubst und gedrängelt, vereinzelt fließen Tränen. „Olivia, Olivia!“, rufen sie durcheinander. Ihre beachtliche Körpergröße von 2,10 Metern bietet der Dragqueen Schutz im dichten Gedränge. Trotz der Massen hat sie niemals das Gefühl, überrannt zu werden. Mit dem Kaffeebecher in der Hand pendelt sie stundenlang zwischen ihren Bars hin und her. Jeder bekommt sein Foto, an die 1000 dürften es in so mancher Nacht sein. Auch nach Stunden ist bei Olivia kaum ein Zeichen von Erschöpfung zu erkennen. Mit dem Blitz der Kamera schaltet sie auch ihr Lächeln ein. Privat dagegen ist Oliver Knöbel sehr zurückhaltend, fast schüchtern. Der 44-Jährige hat ungeschminkt keinerlei Geltungsbedürfnis. Im Gegenteil: Er hasst es, fotografiert zu werden. Für Olivia Jones dagegen wäre es die größte Strafe, ignoriert zu werden. „Sie ist immer auf der Überholspur, eine echte Rampensau“, sagt Kollegin Barbie Stupid. „Egal wie viel los ist, sie ist immer an der Front.“

Doch Arbeit und Erfolg fordern ihren Tribut. „Ich bewundere es natürlich, dass sie so unheimlich fleißig ist“, sagt Freundin Lilo Wanders. „Aber ich bemerke manchmal, dass ein bisschen der Humor, der Witz auf der Strecke bleibt.“ Auch ihr Verhältnis zum Stadtteil leidet unter dem großen Erfolg. Je näher sie ihren Fans ist, desto mehr entfernt sie sich vom Viertel. Viele Nachbarn und ehemalige Freunde im Stadtteil beklagen, dass Olivia kaum noch persönliche Kontakte pflege. Zwar genießt sie bei vielen Menschen auf St. Pauli aufgrund ihrer langen Verbundenheit nach wie vor eine hohe Akzeptanz, doch die Beschwerden über ihre zu großen und lauten Kieztouren häufen sich. Heute redet man nicht mehr mit ihr, sondern vor allem über sie.

Wie sehr sich die selbst ernannte „Bürgermeisterin von St. Pauli“ und ihr Volk voneinander entfernt haben, zeigt sich auch daran, dass sie als eine der wenigen die umstrittene Seilbahn über die Elbe als prominente Unterstützerin befürwortet. Kritiker werfen ihr einen Ausverkauf der Meile vor, sprechen von „Karneval“ und „Disneyland“. Der Kiez sei für sie nur noch eine Show-Kulisse für ihre Entertainer, heißt es. Berechtigte Kritik oder Neid?

Es scheint, als habe sich die Bürgermeisterin zur Königin gekrönt, die auf Legitimation durch das Volk der St. Paulianer nicht länger angewiesen ist. „Sie und ihre Berater müssen aufpassen, dass das ganze Ding nicht so groß wird, dass es irgendwann mal implodiert“, sagt Lilo Wanders. „Das sehe ich als Gefahr, da muss man einen guten Mittelweg finden.“

Ihr Königreich jedenfalls will Olivia Jones weiter vergrößern. Für das kommende Jahr plant die Dragqueen sogar eigene Stadtrundfahrten durch Hamburg. „Wenn wir irgendeine Idee haben, wie wir den Stadtteil bereichern können, werden wir das natürlich machen“, sagt die Kiez-Königin. „St. Pauli hat ein großes Potenzial, das noch weiter ausgeschöpft werden kann.“ Drohung oder frohe Botschaft?

Video-Interviews mit Olivia Jones und Lilo Wanders finden Sie im St. Pauli Blog des Hamburger Abendblatts unter http://st.pauli-news.de