St. Pauli ist ihre Welt. Dort tritt Eve Champagne als Burlesque-Tänzerin in verschiedenen Clubs auf. Touristen nimmt sie die Angst vor dem Kiez.

Diese Frau liebt das große Format. In ihrem Flur stehen drei Paar Monster-Puschen, in ihrem Kleiderschrank fände eine 13-köpfige Fellachenfamilie samt Schafen Platz. Sie misst 1,81 Meter, mit Hütchen und High Heels kommt sie auf gute 1,95 Meter. „Aber in Olivias Show Club bin ich die Kleinste und die Weiblichste“, sagt sie und lacht.

Jetzt am späten Nachmittag ist Eve Champagne noch Evelyn Szepa, die auf St. Pauli in einer WG mit zwei Männern wohnt und die Espressomaschine anwirft. Bald ist Schminkzeit – Haare legen, Wimpern kleben, Lidschatten auftragen. Vor ihr liegen zwei Kiez-Führungen à anderthalb Stunden, ab 23.30 Uhr Show. Vier Tage die Woche, bei Feiertagen auch mehr.

Als sie vor sieben Jahren aus Bremen nach Hamburg kam, trat sie als eine der ersten Performerinnen des „neuen“ Burlesque in Deutschland im Queen Calavera auf. Das klassische Burlesque entstand in den 40ern in den USA, „damals war das wie Striptease“, sagt Eve. „Denn man durfte ja noch nicht alles zeigen. Das heißt: Nippel bedeckt, Höschen bleibt an.“

Wichtiger als Nacktheit ist beim Burlesque die charmante, lustige und frivole Geschichte, zu der sich die Tänzerin auszieht, bis auf ein letztes bisschen Stoff zum Schluss. Eve Champagne zelebriert dabei ihren eigenen Stil, angelehnt an die 40er-Jahre-Pin-ups der GIs: freche Hütchen, freche Korsagen, very vintage. „Von dieser Zeit war ich schon als Kind fasziniert“, sagt sie. „Damals haben sich die Mädels viel Mühe gegeben, wenn sie ausgegangen sind, nach dem Motto: Warum soll ich was Bequemes tragen, wenn ich auch was Wunderschönes anziehen kann?“ Als Teenager schwärmte sie für die Filme der 40er und 50er, für die schönen Abendkleider, tollen Frisuren, die Liebesgeschichten. „Und für die Musik, diesen Big-Band-Sound. Ich hab davon geträumt, eine beleuchtete Showtreppe runterzulaufen, so mit Zylinder und Tanzstöckchen.“

Bloß fand sie sich damals furchtbar hässlich: „Ich war riesengroß, dürr, kein Arsch, keine Titten, Zahnspange und Brille. Mobbingopfer Nummer eins.“ Durch die Filme sei sie darauf gekommen, Pin-up-Bilder zu sammeln. Und kam über diese zu Burlesque. Erst Burlesque habe ihr geholfen, ihre Weiblichkeit zu entdecken. „Da hab ich mich zum ersten Mal glamourös gefühlt, am liebsten hätt ich mich in einem roten Kleid auf ein schwarzes Piano gelegt, einfach, um das Gefühl zu haben: Aaach, ich bin ja sooo ein geiles Stück!“ Inspiration war Dita Von Teese, die hollywoodeske Burlesque-Ikone, die sich im Pariser Olympia in der Sektschale rekelt und mit Marilyn Manson verheiratet war.

Aber diese Art eleganter Weiblichkeit will Eve nicht kopieren. „Dita ist Dita, aber ich will ich selbst sein. Und ich bin als Typ burschikos. Das Allergroßartigste ist, dass ich trotzdem in verschiedenste Rollen schlüpfen kann.“ Der Mix aus Witz, Glamour und Persiflage bei Burlesque macht alles möglich, von der Hausfrau bis zur Rodeoreiterin. „Wenn ich Lust habe, eine Piratin zu sein, bin ich eine Piratin. Oder eben Drunken Sailor. Aber trotzdem sexy. Und schön.“ Die besoffene Matrosin gehört zu ihren beliebtesten Nummern. Was dabei ins Auge fällt: Eve hat keine Tattoos. „Nee! Weil ich auf alles stehe, was wehtut und Spaß macht. Und ich weiß, wenn ich anfangen würde, hätte ich in zwei Jahren einen Bodysuit und wäre zugehackt bis unters Kinn.“ Ohne Tattoos ist sie unter ihren Freunden und auch unter vielen jüngeren Show-Gästen ein Exot. Aber das gefällt ihr wieder: bloß aus dem Rahmen fallen.

Privat ist sie das Gegenteil von exaltiert, nämlich bodenständig. In ihre Survivaltasche packt sie noch Tupperdosen mit Schnittchen und Salat. Das machen auch ihre Kolleginnen Barbie Stupid und Lee Jackson so, mit denen sie sich die Garderobe in Olivias Show Club teilt. Der Abend wird lang, und man muss sich ja zwischendurch stärken. Im Show Club setzen Barbie und Lee gerade ihre roten Löckchenperücken auf. „Sag bloß, du kriegst da Cellulite“, sagt Barbie, als Eve ihr Bein in die schwarze Hose steckt. In ihrem Kieztouren-Kostüm mit brandrotem Cape und rotem Hütchen auf den roten Locken fällt sie auf wie eine Laterne.

Am Millerntor wartet schon ihre Touristengruppe. Was unterscheidet Eves Tour von anderen? „Ich will Frauen und Männern die Angst vor St. Pauli nehmen“, sagt sie, „vor dem Milieu, dem Schmutz oder der Gewalt. Die gibt es hier natürlich, aber ich möchte ihnen vermitteln, dass St. Pauli auch ein Dorf ist, wo man sich kennt und wo man sicher ist. Vor allem will ich den Leuten nahebringen, etwas weitwinkliger über Sex nachzudenken.“ Das geht schon los auf dem Spielbudenplatz: Eve zeigt ihren Schützlingen eine Fingerkralle (SM: zieht man auf den Finger, um zu kratzen) und einen Anal-Plug. Großes Erstaunen. „Das bekommt ihr in der Boutique Bizarre, da könnt ihr euch auch beraten lassen“, erklärt Eve. Sie erzählt von der Seeleute-Tradition auf dem Kiez und, dass sie Tochter eines polnischen Seemanns ist. Zwischen Davidwache und dem Box-Keller der Ritze werden die Besucher aus Stuttgart, Magdeburg und Verden zutraulicher. Im Silbersack, erzählt Eve, hat ihr mal Ben Becker – „breit wie ’ne Landebahn“ – die Schuhe vollgekotzt. Mit blanken Augen gucken die Gäste zu ihr auf wie zu einer hünenhaften, erotomanischen slawischen Elfe.

Ihre Eltern hätten sie immer unterstützt, sagt sie. Geboren und aufgewachsen ist sie in Bremen, wollte nach dem Abi aber nicht studieren, sondern „immer schon auf die Bühne“. An Schauspielschulen sagte man ihr, wegen ihrer Größe und ihrer Art sei das Rollenspektrum nur schmal. Burlesque lässt ihr mehr Freiheiten. Ihre Rollen hat sie alle selbst einstudiert. „Man hat eine Idee. Es fängt vielleicht mit einem Paar Schuhe an oder einem Hütchen, einem Accessoire; oder einer Alltagssituation. Auf die besoffenen Matrosen bin ich gekommen, weil mein Vater zur See gefahren ist und ich viele Matrosen auf Landgang gesehen habe. Oder es ist ein Song, bei der Matrosin ,Trouble‘ von Elvis. Da baut man alles drum rum, die Geschichte, Kostüm, Bewegungen.“ Und wie lernt man, auf 15 Zentimeter hohen High Heels eine besoffene Matrosin zu spielen, ohne lang hinzuschlagen? Wir haben es geahnt: „Das muss man üben. Vor allem musst du das durchhalten, das ist ja richtig schmerzhaft. Du musst die Bewegungsabläufe so oft wiederholen, bis du ein Gefühl für den eigenen Körper hast. Und wenn man dann torkelnd auf High Heels auf so einer kleinen Bühne herumläuft, muss man sich unheimlich konzentrieren.“ Trotzdem ist schon alles Mögliche passiert – hinfallen, umknicken, ausrutschen, was bei der besoffenen Matrosin nicht so schlimm ist. „Aber wer fallen kann, tut sich nicht weh.“

Wie befestigt man eigentlich die Paillettendeckel an den Nippeln? Jetzt wird’s fachlich: Ohne Troddeln heißen sie Pasties, mit Troddeln sind es Nipple Tassels (Tassel: Klunker, Quaste), und wenn die Troddeln herumschwingen, ist der Fachbegriff Tassel Trill. „Zum Dranmachen hat jede ihr eigenes Rezept“, sagt Eve, „manche nehmen Mastix, das Maskenbildner auch für künstliche Nasen benutzen. Ich mach es mit Toupet-Klebeband, da kann ich auch Flüssigkeit drüberschütten.“ Andere nehmen sogar Teppichkleber, „weil der besonders fest hält, auch wenn sie stark schwitzen oder wenn die Nippel so hart sind, dass es sonst abfällt“.

Was Show-Gästen und Touristen verborgen bleibt, ist die Disziplin, die zum Alltag der Burlesque-Performerin gehört. Um sich fit zu halten, geht Eve mehrmals in der Woche schwimmen. Mit ihrem Freund (Polizeibeamter in Bremen) macht sie Trekking-Touren. „Ich bin keine romantische Person im klassischen Sinn mit Rosen und so. Ich hab den höchsten Berg Deutschlands und Marokkos bestiegen, und dann guckt man sich zusammen den Sonnenaufgang an – das ist für mich Romantik.“ In Thailand hat sie ihren Tauchschein gemacht. „Meine Erwachsenenträume hab ich alle erfüllt. Jetzt kommen meine Kindheitsträume dran. Demnächst fahre ich mit einem Kumpel für vier Tage nach Disneyland Paris.“

So sehr ihr das Leben mit Burlesque gefällt, weil es sich für sie „richtig“ anfühlt, so klarsichtig denkt sie auch an die Zukunft. „Mach was Vernünftiges, haben meine Eltern gesagt, und ich dachte: Mit spätestens 25 muss ich eine Ausbildung anfangen.“ Die hat sie 2012 abgeschlossen: als Hotelfachfrau und Barmixerin. Nach zweieinhalb Jahren Lehrzeit im east legte sie die Prüfung ab – „60 Cocktails auswendig lernen, servieren, Deko und alles“. Jetzt könnte sie sich jederzeit als Hotelfachfrau bewerben. Das muss aber noch warten. Andere Frauen um die 30 kämpfen mit Excel, PowerPoint oder Druckern. Womit kämpft eine Burlesque-Tänzerin? „Mit Make-up, das halten soll. Mit High Heels in Größe 42! Und 300-Euro-Schuhe krieg ich genauso schnell kaputt wie 30-Euro-Schuhe. Ich kämpfe mit Intoleranz von Leuten, die aus eingefahrenen Sichtweisen nicht rauskommen. Mich nervt auch, wenn Leute dauernd SMS tippen, so ohne Gefühl und Körpersprache. So will ich nicht kommunizieren, ich bin da eher analog.“

Eve kann rülpsen, dass man’s bis Neumünster hört. Was das betrifft, herrscht auf St. Pauli wirklich große Freiheit. „St. Pauli ist wie eine Kerze, die von zwei Enden brennt“, sagt Eve. „Ich mag die Gemeinschaft und den Zusammenhalt, ich fühle mich sicher.“ Ja klar, hier sieht auch jeder das Elend und das Eklige. „Das finde ich aber gut. Es führt mir vor Augen, wie schnell alles vorbei sein kann. Elend und Aufstieg sind hier so nahe beieinander.“

Weitere Geschichten aus dem weltberühmten Hamburger Stadtteil unter www.pauli-news.de