Anna, 30, und ihre Tochter lebten nur neun Tage zusammen. Dann ordnete das Jugendamt Altona die Inobhutnahme der kleinen Lucia an. Seitdem sieht Anna ihr Baby nur zu festen Besuchszeiten. Wie konnte es so weit kommen?

Wenn Anna*, 30, ihre acht Wochen alte Tochter Lucia sehen will, muss sie sich an feste Besuchszeiten halten. Zweimal am Tag für jeweils zwei Stunden darf sie zu ihrem Baby. So steht es in dem Beschluss des Familiengerichts Altona.

Wenn Anna dann mit Lucia zusammen ist, darf sie ihr Baby nicht im Sitzen auf den Arm nehmen. Sie muss sich auf den Boden legen, seitlich daneben darf Lucia liegen. In dieser Position darf Anna versuchen, ihr Neugeborenes zu stillen. Und sie muss auch liegen, wenn sie ihr Baby streichelt. Ein oder manchmal auch zwei Betreuer vom Jugendamt schauen ihr beim Stillen zu und wachen darüber, dass diese Vereinbarung eingehalten wird.

Es ist der 5. Juni, als Anna erfährt, dass die Behörden ihr das Kind wegnehmen. Da ist Lucia neun Tage alt. Als das Jugendamt die Inobhutnahme des Babys angeordnet hat, will Anna für ihre Tochter zumindest etwas Muttermilch ins Krankenhaus mitgeben. Es wird ihr nicht erlaubt, weil ein Arzt das Risiko einer Kindeswohlgefährdung ausschließen will.

Lucia ist ein Wunschkind. Am 27.Mai kommt sie um 23.45Uhr per Kaiserschnitt im Albertinen-Krankenhaus zur Welt. Anna ist überglücklich. Sie hatte sich seit Langem ein Kind gewünscht. Sie weiß nicht, wer der Vater ist. Zwei in Betracht kommende Männer haben bereits eine Probenentnahme vornehmen lassen, um die Vaterschaft zu klären. Bisher wird ein Vaterschaftstest verhindert.

Anna hat sich lange auf die Geburt vorbereitet. Sie hat viel gelesen und sich beim Verband der alleinerziehenden Mütter und Väter umfassend informiert. Weil sie Epileptikerin ist, hat sie nach intensiver Absprache mit ihren Ärzten ihre Medikation während der Schwangerschaft umgestellt.

Anna hat Babykleidung, eine Kleinkinderbadewanne und einen Wipper gekauft. Die Eltern eines Freundes haben ihr bei den Anschaffungen geholfen, der Vater hat das Kinderbett in ihrer Wohnung aufgebaut. Er schreibt später in einer eidesstattlichen Versicherung für das Gericht, dass er Anna seit rund zehn Jahren kenne: „Aus meinen Gesprächen mit ihr weiß ich, dass sie ihre Schwangerschaft von Anfang an mit Freude aufgenommen hat.“ Anna sei durchaus in der Lage, ihre kleine Tochter einwandfrei zu versorgen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals die kleine Lucia vernachlässigt.“

Lucia bekommt mehrfach Anfälle: Sie atmet nicht mehr und läuft blau an

Einen Tag nach der Geburt bekommt Lucia im Krankenhaus die ersten beiden Anfälle. Das Neugeborene atmet nicht mehr, es läuft blau an und verdreht seine Augen. Die Ursache ist bis heute nicht geklärt.

Anna leidet seit ihrem vierten Lebensjahr an Epilepsie, auch bei ihr ist die Ursache, wie in den meisten Fällen, ungeklärt. Unter EEG-Kontrolle (Hirnstrommessungen) wurden bei ihr Anfälle beobachtet, die mit abruptem Einsetzen von Angst, infantilem Verhalten und Sprechen sowie psychomotorischer Unruhe einhergingen. Seit zwei Jahren hatte sie keine Anfälle mehr.

Als Lucia zum zweiten Mal blau anläuft, gerät Anna in Panik. Sie läuft aus ihrem Klinikzimmer laut schreiend über den Stationsflur. „Die Leute sind vor mir weggerannt“, sagt sie. Es dauert lange, bis sie von den Schwestern beruhigt werden kann. Und dabei sagt sie dann einen folgenschweren Satz: „Ich musste mein erstes Kind töten.“

Ihre Freundin Juli, die bei Lucias zweitem Anfall mit im Krankenzimmer gewesen ist und auch schon bei der Geburt dabei war, und Anna selbst klären die Klinikmitarbeiter einige Sekunden später über die tatsächliche Bedeutung dieses Satzes auf. „Damit hat Anna ihre Abtreibung im Alter von 15 Jahren beschrieben, die sie immer noch sehr belastet.“

Der Satz aber findet den Weg zum Jugendamt in Altona. Und er löst einen ziemlich beispiellosen Kampf um ein Neugeborenes aus.

Die Inobhutnahme der kleinen Lucia fällt in eine Zeit, in der in Hamburg ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss herauszufinden versucht, wie es zum Tod der dreijährigen Yagmur im Dezember 2013 kommen konnte. Zeitgleich geht ein Gericht der Frage nach, ob die Kindesmutter ihre Tochter totgeprügelt hat.

In Hamburg sterben immer wieder kleine Kinder. Es scheint so, als könne die Stadt ihre Kinder nicht ausreichend vor Gewalt und Misshandlung schützen. Zuständige Behörden und Institutionen, so der Vorwurf, schätzten heikle Situationen nicht immer richtig ein. In diesen Wochen und Monaten nimmt die Opposition im Rathaus die Sozialbehörde samt Senator Detlef Scheele (SPD) unter Dauerbeschuss.

Wer mit den Mitarbeitern vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) spricht, hört Geschichten von andauernder Überlastung, zu vielen Betreuungsfällen pro Mitarbeiter und einer ausufernden Pflicht zur Dokumentation. Statt sich bei Hausbesuchen einen Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Menschen machen zu können, müssten immer mehr Informationen in ein völlig unübersichtliches Computersystem eingegeben werden.

Wer mit den ASD-Mitarbeitern spricht, hört auch immer wieder, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nie geben kann. Weil man es mit Menschen zu tun habe. Und in die könne man letztlich nicht hineingucken.

In diesem emotional aufgeheizten Klima, das liegt auf der Hand, versuchen die Mitarbeiter in den Jugendämtern der Stadt, noch genauer hinzuschauen. Nichts wäre fataler als ein weiteres totes Kind.

Bei Anna schauen jetzt sehr viele Menschen genauer hin. Ihr Fall beschäftigt Kinderärzte, Rechtsmediziner und Psychiater, eine Gutachterin und eine Familienrichterin, einige Anwälte und eine Handvoll Mitarbeiter vom Jugendamt. Und die Freunde von Anna, die sich das alles nicht erklären können und entsetzt darüber sind, in welche Lage eine junge Mutter in Hamburg kommen kann.

Anna ist eine zierliche Person. Sie lächelt viel und spricht sehr offen über ihre Gefühlswelt. Ihre Freunde mögen ihre unbeschwerte Fröhlichkeit und ihren Optimismus, ihr Klavierspiel und ihre schöne Stimme, ihre Hilfsbereitschaft und ihre Tiefe in den Gesprächen. Sie ist im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern aus Kasachstan nach Deutschland gekommen und, wie ihr Freund Martin sagt, „in sehr schwierigen Verhältnissen“ aufgewachsen. Sie musste schon früh Verantwortung übernehmen. Anna sagt, sie sei in einen Albtraum geraten. „Am schlimmsten war es, als ich einmal im Krankenhaus vor dem Zimmer warten musste, bis ich zu meiner Tochter durfte. Ich sah und hörte Lucia schrecklich weinen und durfte nicht rein.“ Sie hat ihre Tasche zu Boden geschmissen, war vollkommen aufgelöst, hat geheult und geschrien: „Holen Sie doch die Polizei, ist mir scheißegal, ich will nur zu meiner Tochter.“ Und dann musste sie ihr Baby beruhigen – und die Schwestern mussten sie beruhigen. „Und das kostet so viel Kraft und fördert nur noch mehr Anfälle.“

Stress gilt, wie auch Schlafentzug, als häufiger Anfallsauslöser bei Epileptikern.

Anna sagt, sie laufe bei jeder neuen Entwicklung Amok, „weil ich denke, sie nehmen mir meine Tochter weg – und ich komme in die Klapse“. Ihre Freunde sagen dann: „Was redest du denn, Anna? Das können die gar nicht!“ Und Anna sagt: „Wo sind wir denn jetzt schon gelandet? Wie schlimm und erniedrigend ist es, als Mutter beweisen zu müssen, dass man seine Tochter nicht absichtlich würgt oder ihr wehtut.“

Denn auch dieser Vorwurf stand im Raum: Anna leide womöglich unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, also dem Erfinden oder Verursachen einer Krankheit des Kindes, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wie konnte es so weit kommen?

In einem vorläufigen Krankenhausbefund vom 10.Juni heißt es über Anna: „Wir sehen in mehreren Gesprächen eine junge Mutter, die noch unsicher im Handling mit ihrem Neugeborenen war und sehr verunsichert wirkte.“ Da man nicht klären könne, ob diese Unsicherheit durch die Geburt, die neue Situation oder Persönlichkeitsmerkmale begründet sei, werde eine gemeinsame Unterbringung in einer therapeutischen Mutter-Kind-Einrichtung vorgeschlagen.

Das ist auch Annas Wunsch. Aber dazu ist es bis heute nicht gekommen.

Die Behörden wollen sich nie mehr dem Vorwurf des Wegsehens aussetzen

Das inzwischen eingeschaltete Jugendamt in Altona eilt zu Hilfe. Und plötzlich steht Anna unter staatlicher Beobachtung. Wie geht sie mit ihrem Baby um? Was sagt sie? Was tut sie? Was denkt sie? Der Druck wächst. Und die Verunsicherung. Auf beiden Seiten.

Anna weiß nicht, warum ihr Baby die Anfälle bekommt. Die Mitarbeiter vom Amt wissen nicht, ob die Mutter für ihr Baby eine Gefahr darstellt.

Statt vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, beginnt eine Phase des Belauerns. Als Anna ihr Baby wickelt, in der Windel den Kot entdeckt und laut sagt: „Oh, was ist das denn?“, wird ihr der Satz so ausgelegt, als wisse sie nicht, dass Babys schon Stuhlgang haben. „In einem Telefonat von mir mit dem Jugendamt wurde dieser absurde Vorwurf sogar noch einmal betont. ‚Das weiß doch sogar eine Zwölfjährige!‘, sagte die Mitarbeiterin zu mir“, erzählt Martin. Der Vorsitzende einer Stiftung, bei der Anna seit zehn Jahren arbeitet, ist ihr wichtigster Verbündeter. „Ohne Martin hätte ich das alles nicht durchgestanden“, sagt Anna.

Martin nennt noch weitere Beispiele für „absurde Vorwürfe“. Einmal, sagt er, habe er lange mit dem Jugendamt diskutieren müssen, ob Wasserbetten wirklich Schubladen haben können. Darin liege nämlich bei ihr zu Hause die Babykleidung für Lucia, hatte Anna der Frau vom ASD gesagt. Die hatte das angezweifelt. Martin ist immer noch fassungslos: „Erst durch die ständigen Verdrehungen und Unterstellungen wuchs die Unsicherheit bei Anna.“ Er sagt, dass er anfangs noch sehr offen und freundlich mit den Jugendamtsmitarbeitern gesprochen habe. „Ich fand es toll, dass sie aufpassen.“ Aber irgendwann hatte er den Eindruck, „dass bei Ärzten und auch beim Jugendamt aktiv nach Gründen gesucht wurde, Anna für krank zu erklären“.

Anna aber fängt an, sich zu wehren. Als sie nach einer Woche sagt, sie verlasse jetzt das Krankenhaus mit ihrem Baby, weil Lucia keine Anfälle mehr gehabt habe und für gesund gehalten werde, hätte die Frau vom Jugendamt, so schildert es Anna, „mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt: ‚Dann ist Ihr Kind weg.‘“

Anna nimmt sich eine Anwältin, die als Erstes einen Antrag auf einstweilige Anordnung für den Verbleib des Kindes bei der Mutter stellt. Das Jugendamt erklärt im Gegenzug die Inobhutnahme. Dazu ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, wenn „eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes“ vorliegt.

Der Beschluss kommt per Fax in die Klinik – mit der Bitte, dieses Schreiben der Kindesmutter zu übergeben.

Am 12.Juni findet vor Gericht eine mündliche Anhörung statt. Anna kommt mit Lucia. Als sie merkt, dass es dem Baby schlechter geht, verlässt sie den Gerichtssaal. Draußen erleidet Lucia erneut einen Anfall. Die Richterin ist offenbar verunsichert und das auch, weil es in einem Bericht vom 2.Juni des Kinderkrankenhauses Altona, in das Mutter und Kind verlegt worden sind, heißt: Anna sei „psychisch hochgradig auffällig mit zum Teil wahnhaften Vorstellungen und sehr sprunghaften Gedanken“.

Die Richterin gibt deshalb erst einmal ein Gutachten über Anna in Auftrag, bevor sie eine Entscheidung treffen will. Solange bleibt das Sorgerecht beim Jugendamt.

Am 17.Juni schreibt das Jugendamt einen folgenschweren Brief an das Familiengericht. In Situationen, in denen Lucia die als „schlapp mit Atemaussetzern beschriebene Symptomatik“ aufweist, sei die Mutter „nicht angemessen handlungsfähig“. Dann beruft sich das Jugendamt auf eine Einschätzung der Kindesmutter durch die Universitätsklinik Eppendorf (UKE). Es schreibt: „Laut UKE-Rechtsmedizin ist nicht auszuschließen, dass die gesundheitlichen Probleme durch die Mutter verursacht wurden.“

Ein ungeheurer Verdacht, der im Umkehrschluss bedeutet: Ärzte im UKE halten es für möglich, dass die Mutter für die Atemaussetzer ihres Babys verantwortlich ist.

Und dann folgt der Satz: „Nach Einschätzung der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE vom 16.Juni besteht bei der Mutter der Verdacht auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, nämlich einer Psychose, Angststörung oder Persönlichkeitsstörung.“

Wie sind die Ärzte im UKE zu dieser Einschätzung gelangt?

Am Abend des 13.Juni ist Anna in der Uniklinik Eppendorf psychiatrisch untersucht worden. In einer Stellungnahme des UKE-Oberarztes Professor Lambert für das Jugendamt und das Familiengericht heißt es: „Laut Angabe von Dr. D. Seifert aus dem Institut für Rechtsmedizin des UKE besteht der Verdacht auf stattgehabte Schädigung von Lucia durch die Mutter.“

Anna sagt, sie habe mit Frau Dr. Seifert nicht gesprochen. Anna hat das UKE von seiner Schweigepflicht gegenüber dem Abendblatt entbunden. Das UKE sagt, man könne sich zu dem Fall trotzdem nicht äußern, da es sich um ein gerichtliches Verfahren handelt. Nur so viel: „Wir wünschen uns, dass im Interesse der Mutter und des Kindes eine sorgsame Einschätzung der Situation der Mutter erfolgt.“

Professor Lambert, der diese Stellungnahme unterschrieben hat, erscheint aus dienstlichen Gründen nicht vor Gericht, gibt aber auf telefonische Nachfrage der Richterin an, „keinen persönlichen Kontakt zur Kindesmutter gehabt zu haben“.

Bleibt sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der diensthabende Klinikarzt, der in seinem psychopathologischen Befund über Anna unter anderem aufführt: „Wach, bemüht freundlich, kein Anhalt für eine Ichstörung, kein Anhalt für Befürchtungen und Zwänge, kein Hinweis auf wahnhaftes Geschehen.“

Eine Gutachterin sagt eindeutig zugunsten Annas aus – vergeblich

Die Richterin telefoniert noch einmal mit dem UKE-Arzt. Und der bestätigt ihr, es sei richtig, dass er „im Rahmen der Untersuchung – d.h. allein basierend auf den Angaben der Kindesmutter – Anzeichen für die im Bericht erwähnten Erkrankungen nicht bestätigen konnte“. Er frage sich allerdings, ob sie alles preisgegeben habe. Die Kindesmutter sei „schon merkwürdig“.

Wesentlich eindeutiger ist die Einschätzung der hinzugezogenen Gutachterin. Sie besucht Anna und Lucia am 14.Juni im UKE. Sie kommt auf die Kinderstation, als Anna gerade dabei ist, ihrem Baby die Flasche zu geben, weil sie nicht genug Muttermilch hat. Sie macht sich ein erstes Bild von der jungen Mutter und schreibt: „Orientiert. Antrieb und Affekt unauffällig. Lediglich ein fast kindlich anmutendes Verhalten. Kein Anhalt für Psychose. Denkablauf schlüssig. Kein Anhalt für Depression. Im Verhalten authentisch besorgt und auch gut belastbar bezüglich der Anforderungen der Kinderbetreuung wirkend.“ Die Einschätzung der Sachverständigen mündet in dem Satz: „Im weiteren Verlauf fanden mehrere Telefonate mit der Betroffenen statt, die diesen ersten psychiatrischen Befund stützten.“

Die Sachverständige hat auch, bisher als Einzige, eine Fremdanamnese durchgeführt, also die wichtige Befragung von Menschen aus dem sozialen Umfeld, um das Bild der Patientin zu komplettieren. Sie hat mit Annas Freundin Juli gesprochen, die bei Lucias zweitem Anfall dabei gewesen ist, und „definitiv ausschließt“, dass Anna „mit der rechten freien Hand am Gesicht des Kindes manipuliert habe“.

Und sie spricht schließlich mit Professor Klaus Püschel, dem Chefarzt der Rechtsmedizin im UKE, der Mutter und Kind am Abend des 13.Juni auf der Station besucht hat. „Er konnte keine Zeichen äußerer Gewalteinwirkung feststellen“, schreibt sie. Das bestätigt Püschel in einem Telefonat mit der Richterin, fügt aber hinzu, Anzeichen von Fremdeinwirkung seien bei Erstickungsversuchen an Neugeborenen auch nicht zu erwarten. Das Fazit der Gutachterin: „Für das Vorliegen einer schwerwiegenden psychischen Störung, die eine Kindeswohlgefährdung bedingen könnte, besteht bislang kein hinreichender Anhalt.“ Die Mutter sei eher überbesorgt und sehr bereit, Hilfen anzunehmen. „Sie handelt insofern verantwortungsvoll, da sie sich ihrer Defizite bezüglich der Säuglingsversorgung sehr bewusst ist.“

Und auf noch einen Umstand macht die Sachverständige aufmerksam: Die Mutter leide an Epilepsie, habe vor drei Tagen aufgrund der drohenden Inobhutnahme ihres Kindes einen Anfall erlitten, „und es drohen weitere Anfälle bei weiterem (künstlich durch Ärzte, Behörden und Pflegepersonen) erzeugten psychischen Stress.“

Ihre klar formulierte Forderung: Lasst Mutter und Kind wieder zusammen sein, „um das Stillen nicht zu unterbinden und die Mutter-Kind-Bindung nicht zu gefährden“. Ansonsten nämlich drohten „Bindungsstörungen“.

Unter Abwägen des Für und Wider sei eine Trennung von Mutter und Kind die größere Gefahr für das Kindeswohl. Die Sachverständige geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie wäre nicht mehr bereit, „die Verantwortung für das Kindeswohl und die Unversehrtheit der Mutter bei Trennung von Mutter und Kind zu tragen“.

Das Gericht ist dem Gutachten nicht gefolgt. Und hat ein umfangreicheres in Auftrag gegeben, um größere Sicherheit zu erlangen. Dabei stützen Fakten die Einschätzung der Gutachterin. Am 30.Mai wird Lucia ins Kinderkrankenhaus Altona auf die Neugeborenen-Intensivstation verlegt. Dort wird sie rund um die Uhr an einen Monitor angeschlossen, der die Herztöne aufzeichnet. Und im Notfall Alarm schlägt.

Auf dem Weg erleidet Lucia im Notarztwagen einen weiteren Anfall. Anna ist nicht mit im Wagen. „Nach der Aussage ihrer Freundin Juli war damit endgültig der Verdacht ausgeräumt, dass Anna etwas mit den Atemaussetzern ihres Babys zu tun hat“, sagt Martin. „Von diesem Anfall haben wir aber erst vier Wochen später bei einer Gerichtsverhandlung erfahren.“ Außerdem habe es nachweislich, nämlich am 19.Juni, mindestens einen weiteren Anfall von Lucia ohne das Beisein von Anna gegeben.

Martin sagt, das Jugendamt habe immer dann einen neuen Verdacht erhoben, wenn der alte ausgeräumt worden ist. „Erst hieß es, Anna ist verunsichert, lächle zu viel, sei irgendwie merkwürdig und hätte vielleicht eine psychische Erkrankung. Dann äußerten sie den Verdacht des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms. Als auch das durch die Fakten widerlegt worden ist, hieß es plötzlich, Anna sei Epileptikerin – und hätte das aber nicht offen genug kommuniziert. Dabei steht das ja schwarz auf weiß in ihrem Mutterpass und in jeder Krankenhausakte.“

Das Jugendamt lässt laut Anwältin einen Vaterschaftstest nicht zu

Und noch etwas versteht Martin nicht: Warum verweigert das Jugendamt den Vaterschaftstest? „Die Durchführung eines Vaterschaftstests ist nichts, was ein Jugendamt ohne Anlass erzwingen oder verweigern könnte“, heißt es aus dem Bezirksamt Altona, wo man sich aus Gründen des Sozialdatenschutzes zum Einzelfall nicht äußert. Ein entsprechender Wunsch der Mutter könne selbstverständlich mit den entsprechenden Abteilungen der Jugendämter kommuniziert werden. „Das Jugendamt lässt einen Vaterschaftstest mit der Begründung gegenüber der Kindesmutter, dies habe ja noch Zeit, nicht zu“, schreibt Annas Anwältin. „Auch dies ist sicherlich – ebenso wie die strenge Reglementierung der Umgangskontakte – nicht im Interesse des Kindes.“

Für die Anwältin stellt sich der Fall so dar: „Es ist schlicht so, dass die Kindesmutter die Erfahrung machen musste, dass ihr trotz ihrer von Anfang an bestehenden Kooperationsbereitschaft die ungeheuerlichsten Dinge vorgeworfen wurden und sich die Situation immer mehr verschlimmerte. Obwohl sie allen Anweisungen der beteiligten Fachkräfte folgte. Es ist völlig nachvollziehbar, dass sie vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Wochen völlig verunsichert ist. Erst der massive Stress, ausgelöst durch die Trennung vom Kind und der Konfrontation mit dem Vorwurf, sie würde ihr eigenes Kind schädigen, haben zu dem Wiederauftreten der schweren Anfälle geführt.“

Mithilfe ihrer Freunde wird Anna alles tun, um ihr Kind zurückzubekommen

Bei einem erneuten Anfall von Anna am 7.Juli im UKE hat sie Lucia so fest an sich gedrückt, dass ihr die Schwestern nur mit Mühe das Baby wegnehmen konnten.

Anna wird weiterkämpfen. Im Epilepsiezentrum des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf, um mit der richtigen Medikation ihre Anfälle wieder in den Griff zu bekommen. Und vor Gericht, um das Sorgerecht für Lucia zurückzubekommen.

Ihre Freunde staunen, wo sie die Kraft hernimmt. Lucia war zuletzt im Kinderschutzhaus untergebracht. Anna durfte sie besuchen. Aber sie durfte ihre Tochter nicht auf den Arm nehmen. Selbst dann nicht, wenn sie in Begleitung ist und auf dem Fußboden liegt.

Ihre Anwältin hält das für „absolut rechtswidrig“ und fragt in ihrem Schreiben an das Gericht: „Handelt es sich hier um eine Schwerverbrecherin? Der Beginn eines epileptischen Anfalls ist immer erkennbar. Jeder, der neben einer entsprechenden Person sitzt, kann ihr ohne Probleme das Kind aus dem Arm nehmen. Was für eine Höllenqual für eine Mutter. Nicht genug damit, dass ihr Kind in Obhut genommen worden ist, jetzt darf sie das Kind noch nicht einmal mehr ordentlich herzen.“

Lucia ist heute 59 Tage alt. Sie misst 54 Zentimeter und wiegt 4500 Gramm. Sie ist immer noch einen Großteil des Tages von ihrer Mutter getrennt. Jugendamt und Ärzte wollen ausschließen, dass ihr Name einmal in einer Reihe mit Jessica, Chantal und Yagmur genannt wird.

Diese Geschichte kennt bisher nur Verlierer.

*Die Betroffenen möchten nicht ihren vollständigen Namen in der Zeitung lesen, deshalb sind nur Vornamen genannt. Der Name des Babys ist geändert.