Überall in der Stadt kamen die Menschen nach dem WM-Sieg spontan zusammen, um zu feiern. Gleich Zehntausende strömten auf den Kiez.

St. Pauli. Alexander Oehme ist Fotograf, doch wenn ein Fotograf sich den Knöchel bricht und wegen eines orthopädischen Gehschuhs ausgerechnet in der WM-Finalnacht nicht arbeiten kann, ist das mehr als ärgerlich. Aber Alexander Oehme wollte unbedingt auf dem Heiligengeistfeld dabei sein, wollte auch den kollektiven Jubel der 50.000 Fans genießen, wenn Deutschland den Pokal holt. Wonach es jedoch, je länger dieses unfassbar spannende Spiel dauerte, nicht aussah. Als aber Mario Götze in der 88. Minute eingewechselt wurde, sagte Oehme ganz ruhig: „Der macht das Tor!“ Die Umstehenden winkten ab: „Götze? Niemals!“ Zu schwach sei der, zu verspielt, viel zu überschätzt. „Träum weiter, Alex!“

Zu diesem Zeitpunkt waren die Partypatrioten in der KIA-Fan-Arena und vor den Fernsehern der Kiezkneipen sowie auf dem Spielbudenplatz längst zu echten Fußballfans mutiert. Die Spaßgesellschaft fühlte, dass die Lage noch nie so ernst war. Und wenn eine Luft jemals vibriert haben sollte, dann zum Anstoß der Verlängerung im Maracanã-Stadion: Das Meer von Regenschirmen in der Fan-Arena, das an den Schildpanzer der römischen Legionen erinnerte, wiegte sich in sanften Wellen, und die beinahe unheimliche, konzentrierte Stille wurde nur durch die Stimme des ARD-Kommentators Tom Bartels unterbrochen, der die rhetorische Frage stellte: „Wird Götze der neue Messias der deutschen Elf?“

Seit der 113. Minute, nach dem halbhohen Pass von André Schürrle, den Götze mit der Brust annahm und dann mit links ins lange Eck zum 1:0 verwandelte, kennen wir die Antwort, die Oehme selbstverständlich „schon immer gewusst“ hatte: „Aber es ist natürlich schade, dass ich jetzt nicht mit auf die Reeperbahn kann.“

Während noch etwa 25.000 Fans, total durchnässt, aber auch total glücklich, vor der 92 Quadratmeter großen LED-Wand ausharrten, um die Pokalübergabe mitzuverfolgen, formierte sich auf der Glacischaussee bereits der Autokorso. Doch die Hamburger Polizei, die mit insgesamt 240 Beamten im Einsatz war, hatte blitzschnell die Reeperbahn gesperrt. So besaß „die Quadratmeile“ St. Pauli binnen einer halben Stunde eine Wagenburg. Die Autos fuhren hupend im Kreis – Glacischaussee, Helgoländer Allee, St. Pauli Hafenstraße, Pepermölenbek, Holstenstraße, Stresemannstraße und Budapester Straße; der Verkehr kam praktisch zum Erliegen, während sich die Reeperbahn zu einem Boulevard der siegestrunkenen Freude verwandelte. Vor dem Zwick am Millerntorplatz tanzten die ausgelassenen Fans völlig losgelöst, alle paar Sekunden explodierte irgendwo ein Böller, wurden Restbestände des vergangenen Silvesterfeuerwerks verballert; bengalische Feuer tauchten den Hans-Albers-Platz in milieugerechtes rotes Licht. Doch der kommerzielle Sex machte Pause.

Gegen 2 Uhr gab es auf der Kreuzung Reeperbahn – Hein-Hoyer-Straße/Davidstraße kaum ein Durchkommen mehr. Vor dem Lukullus-Wurststand wie auch im Burger King drängten sich die Fans in Kompaniestärke und auch durch die Nebenstraßen – die „Partymeilen“ der David-, Friedrich- und Gerhardstraße – schob sich längst eine wabernde Menschenmasse, irgendwie ziellos, aber ziemlich zügellos und nicht zuletzt vorsichtig, denn es lagen haufenweise Glasscherben auf den Bürgersteigen. Vor den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Feiern und Warten gehören zusammen, denn kaum ein Durchkommen gab es ebenfalls in den Mobilfunknetzen: „Selfies“ von der Partynacht des Jahres zu verschicken war jedenfalls aufgrund der Netzüberlastung schier unmöglich, wobei die Sendemasten auf den abgerissenen Esso-Häusern besonders schmerzlich vermisst wurden.

50 HSV-Fans attackierten eine Stammkneipe von St.-Pauli-Anhängern

Auf diese Weise wurde jedoch plötzlich der gute alte Passbildautomat neu entdeckt. Und wenn man sich dünn macht, passen sechs Mann in solch ein Porträtbüdchen. Ganz locker.

Freude, so sagt man, beflügelt den Menschen, treibt ihn an, lässt ihn das Leben erfüllter gestalten. Freude, sagte auch Sigmund Freud, sei außerdem ein vorbeugender Gesundheitsfaktor erster Güte, denn sie „lässt den ganzen Körper aufblühen und die Person manche Kennzeichen der Jugend wiedergewinnen.“

Vor allem aber wurde nach diesem 1:0 über Argentinien die ungeheure kollektive Kraft der Freude spürbar: Denn das Götze-Tor in der 113. Minute versetzte nicht nur Zehntausende von Hamburger Fans in einen Freudenrausch und entfachte das archaische Wirgefühl, sondern natürlich auch das ganze Land – wobei diese Überdosis Glück hauptsächlich nonverbal ausgelebt wird. Leider auch durch (wenn auch nur wenige) betrunkene Randalierer, die nun damit begannen, ihre Böller in die Menge zu werfen.

Und etwa 50 HSV-Fans – besser: Hooligans – hatten die Sache mit der Freude völlig falsch verstanden und bereits kurz nach dem Abpfiff die Shebeen-Bar an der Hein-Hoyer-Straße „entglast“, ein Stammlokal der St.-Pauli-Anhänger. Sofort standen den Randalierern rund 100 St.-Pauli-Fans gegenüber. Eine Massenschlägerei begann. Als die Polizei wenige Minuten später eintraf, war die Auseinandersetzung jedoch bereits beendet. Verletzte, von kleineren Blessuren einmal abgesehen, gab es nicht. An der Herbertstraße dagegen, die nach dem Halbfinale gegen Brasilien noch von ein paar Hundert Fans gestürmt worden war, blieb (nicht nur) der Fußgängerverkehr sehr überschaubar.

Insgesamt wurden in dieser Partynacht lediglich 14 Strafanzeigen gestellt, wegen Körperverletzung, Diebstahls und Beleidigung. Vor der Davidwache wurde zudem ein Streifenwagen beschädigt. Doch angesichts von mehreren Zehntausend enthemmter Fans war damit kaum etwas passiert. Und das ist einfach nur: schön.

„Wir sind Weltmeister!“ Gefühlt war dies der am zweithäufigsten gegrölte Satz in der Siegesnacht (nach „Götze – wie geil ist das denn?“). Und der wurde auch noch am frühen Morgen von mehreren Hundert hartgesottenen Feierbiestern skandiert, als um 5.15 Uhr die Frühschicht in der Davidwache zum Dienst erschien und die Stadtreinigung die Straßen und Wege vom Müll befreite. Aber waren wir nicht auch schon einmal Papst? Spätestens seit der WM-Finalnacht von Sonntag auf Montag sind wir jedoch Weltmeister im Feiern – und warten nun gespannt auf den Ruck, der nach 24 Jahren wieder durchs Land geht. Vielleicht spüren wir ihn ja, wenn die Weltmeister heute um 9 Uhr in Berlin landen.

Auf die aktuellen Vier-Sterne-Trikots müssen die Hamburger Fans dagegen noch ein bisschen warten. Lediglich im Adidas Store an der Mönckebergstraße gab es am Montag ein kleines Kontingent, das der Konzern optimistisch schon mal vorproduziert hatte. „Die große Lieferung wird noch im Laufe dieser Woche in den Handel kommen“, kündigte Unternehmenssprecher Oliver Brüggen an. Marcus Winter von Sport Scheck erwartet die ersten Weltmeister-Trikots schon heute.