Der UKE-Mediziner Schulte-Markwort: „Ein seltenes Phänomen“.

Hamburg. Es ist erschütternd, welche Qualen Melek Y. ihrer Tochter Yagmur zugefügt haben soll: Als die Dreijährige Ende Dezember gewaltsam starb, war ihr Körper mit 83 Hämatomen übersät, wies lebensbedrohliche innere Verletzungen auf. Die Staatsanwaltschaft wirft der Mutter, 27, Mord aus Hass auf ihre Tochter vor. Ehemann Hüseyin soll tatenlos mitangesehen haben, wie seine Frau Yagmur über Monate immer wieder misshandelte.

Was geht in einer Mutter vor, die ihre Tochter regelmäßig schlägt und sieht, wie ihr Kind leidet? Warum hat Melek Y. überhaupt darum gekämpft, dass Yagmur bei ihr und nicht bei der Pflegemutter leben darf? Es sind Fragen, die sich viele Beobachter des Falls stellen. „Das Schicksal von Yagmur ist ein äußerst tragischer Fall“, sagt Professor Michael Schulte-Markwort, Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf und am Altonaer Kinderkrankenhaus. „Dass eine Mutter ihr eigenes Kind über Monate schwer misshandelt, ist Gott sei Dank ein seltenes Phänomen.“ Meistens seien es eher „psychisch unstrukturierte Männer“, die sich nicht unter Kontrolle hätten. Aber auch bei psychisch schwachen Müttern komme es in Einzelfällen vor, dass sie nicht in der Lage seien, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, komplett überfordert seien und dann ihr Kind schlagen würden.

Eifersucht kann ein Motiv sein, negative Gefühle für das eigene Kind zu hegen

„Diese Frauen lieben ihre Kinder durchaus“, betont Schulte-Markwort. „Aber in bestimmten Situationen übermannt es sie: Sie können sich nicht kontrollieren und die eigenen Bedürfnisse nicht zu 100 Prozent zurückstellen.“ Natürlich fühlten sich diese Frauen als schlechte Mütter. „In ruhigen Minuten erkennen sie auch, dass sie überfordert sind und ihr Kind nicht aufziehen können.“ Aber abgeben wollen sie ihre Kinder häufig dennoch nicht. „Weil sie sich vorgenommen haben, dass ab morgen alles anders wird“, erklärt der Experte.

Diese Mütter, die häufig unter einer Persönlichkeitsstörung leiden, sind selbst bedürftig und fühlen sich somit von der Bedürftigkeit des Kindes bedroht. Michael Schulte-Markwort erklärt es mit einem Bild: „Sie haben es sehr eilig, stehen in einer Schlange und plötzlich drängt sich jemand vor. Bezogen auf die Bedürfnisse eines Kindes heißt das: mit großer Selbstverständlichkeit und Liebe sich selber zurückstellen.“ Im Zweifel schlagen diese Menschen auch zu, um ihre Bedürfnisse durchzusetzen.

Falsch sei, anzunehmen, die Mütter könnten grundsätzlich kein Mitleid empfinden, sagt Schulte-Markwort. „Jemand schlägt sein Kind und tröstest es anschließend – das ist nicht ungewöhnlich.“ Selbst wenn eine Mutter oder ein Vater das Kind grün und blau schlägt, nehmen sie es manchmal gar nicht wahr. „Sie verprügeln ihr Kind, wachen auf und fragen das Kind, wo es sich denn so schlimm gestoßen hat“, sagt der Kinderpsychiater. Es komme auch vor, dass sie mit dem Kind in die Klinik fahren und erklären, es sei vom Wickeltisch gefallen. „Sie kümmern sich also durchaus, aber verdrängen, was sie dem Kind antun.“

Auch Melek Y. hatte stets Erklärungen für die Verletzungen ihrer Tochter parat. Mal war Yagmur angeblich in der Badewanne ausgerutscht, mal hatte ihr Bruder ihr wehgetan und mal war das Mädchen auf der Straße hingefallen. Nach Informationen des Abendblatts soll Melek Y. zudem sehr eifersüchtig auf ihre Tochter gewesen sein. Dass ihr Mann Yagmur häufig mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihr, soll die Mutter nur schwer ertragen haben können.

Michael Schulte-Markwort bestätigt, dass Eifersucht ein Grund sein kann, negative Gefühle für das eigene Kind zu hegen. „Eine Mutter kann so eifersüchtig auf das Kind werden wie auf eine Geliebte“, sagt der Fachmann. Dasselbe gelte umgekehrt auch für den Mann. Diese Eifersucht und die negativen Gefühle können schließlich in Misshandlungen münden. Dass Mütter emotional derart verwahrlost sind, dass sie ihr Kind regelmäßig misshandeln, falle jedoch nicht vom Himmel, stellt der Fachmann klar. „Im Regelfall haben diese Personen auch Schwierigkeiten in ihren Herkunftsfamilien gehabt.“