Vor einem Jahr hat ein Dorfbewohner eine Nachbarin erwürgt. Sie hatte ihn beim Diebstahl in ihrem Haus erwischt. Die Tat hat den Ort verändert. Ein Besuch in Pattensen vor den Toren Hamburgs

Zwischen Alltag und Tragödie liegen 275 Schritte. 275 Schritte, die er mit einem Schraubendreher in der Hand von seiner Haustür durch die Gartenpforte über die Straße zu ihrem Hof geht. Dann wird aus dem bekanntesten Junggesellen des Dorfes der Mann, der die alte Dame aus dem Eichenweg erwürgt hat. Der Mörder aus ihrer Mitte.

Geboren wird Karl-Werner Voigt* am 12. April 1959 in Winsen. Er wächst in Pattensen auf, damals ein Dorf mit zwei Dutzend Bauern, das keine Straßennamen hat, heute ein Ort mit 2000 Einwohnern. Der Großvater ist Landwirt im Ort, der Vater Handwerker. Die Eltern sind streng. Nach der Hauptschule will Karl-Werner Tischler werden, sie sagen: Elektriker. Er beginnt die Lehre und bricht sie ab. Arbeitet zehn Jahre als Fernfahrer, bis die Firma sich auflöst. Bekommt Probleme mit Bandscheibe und Knie, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Staplerfahrer und Hilfskraft in der Landwirtschaft durch. Frau und Kinder bekommt Karl-Werner nicht, er wohnt bei seiner Mutter. Bis Juni 2013. Da muss er in die Justizvollzugsanstalt Lüneburg.

Im späteren Gerichtsverfahren wird herauskommen: Die Arbeit bei den Bauern wurde immer weniger. Eine Umschulung hat er nie gemacht, Sozialhilfe nie beantragt. Karl-Werner Voigt hatte keinen gültigen Personalausweis, keine Krankenversicherung und kein Konto. Eine Existenz am Rande der Gesellschaft. Mitten im Dorf.

Es ist der 30. Mai 2013. Der 54-Jährige hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Seine Mutter lebt nach einem Schlaganfall im Pflegeheim, er in ihrem Haus. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Mehr Zimmer nutzt er nicht. Neben dem Bett steht ein Plastikeimer bereit, damit er zum Wasserlassen nicht ins Bad gehen muss. Die laufenden Kosten gehen von ihrem Konto ab, das Bargeld ist ihm ausgegangen.

Als er sich wie jeden Tag im Dorf herumtreibt, auf der Suche nach einem Klönschnack und dem neusten Klatsch und Tratsch, sieht er seine Nachbarin im Auto davonbrausen.

83 Jahre alt, lebt Luise Brinkmann* seit Jahrzehnten im Dorf, sie hatte noch einmal geheiratet. Karl-Werner half ihr manches Mal, die beiden duzten sich. Er kennt ihr Haus, ihren Alltag, ihre Gewohnheiten. Und geht davon aus, dass Luise ihre Tochter im Nachbarort besucht und erst Stunden später zurückkommen wird.

Der alte Bekannte holt von zu Hause einen Schraubendreher, geht die 275 Schritte von seinem Haus über die Straße zu ihrem. Gelangt mit dem Werkzeug durch die Hintertür und mit einem Draht in die Speisekammer. Sucht nach etwas Essbaren. Findet nichts Passendes. Und bekommt auf einmal Panik: Was, wenn die Leute im Dorf von selbst auf die Idee kommen, er sei der Dieb aus Brinkmanns Speisekammer gewesen? Er denkt nach. Will es wie einen ganz normalen Einbruch aussehen lassen. Schnappt sich 34 Euro in Münzen aus dem Eierverkauf der 83-Jährigen, ihre Geldbörse mit 160 Euro, ihr Goldarmband, ihr Sparbuch.

Dann steht sie da. Luise Brinkmann ist früher zurück, als vom Einbrecher geplant. „Karl, was machst du da?“ Er will fliehen, sie hält ihn fest. „Ich rufe die Polizei!“ Er will türmen, sie packt seinen Arm. Taumelt, stürzt, rafft sich wieder auf. Er nimmt sie in den Schwitzkasten und würgt die zierliche Frau so lange, bis sie sich nicht mehr bewegt und ihr Körper an seinem hinunter auf den Boden rutscht.

Ein Mann, der seit 54 Jahren im Dorf lebt, hat gerade eine 83 Jahre alte Nachbarin umgebracht, die er seit wohl 30 Jahren kennt.

Er bekommt es mit der Angst zu tun. Angst vor DNA-Spuren, das kennt er aus dem Fernsehen. Karl-Werner Voigt zieht Luise Brinkmann die Kleidung aus, legt sie in Unterwäsche auf ihr Bett. Stopft die Sachen in eine Plastiktüte aus der Küche und schleppt sie nach Hause. Stellt die Waschmaschine an, guckt in ihr Portemonnaie und geht mit dem Geld ein Bier trinken und was essen. „Am nächsten Tag kam er hier seelenruhig vorbei. Ich war gerade mit meinem Sohn im Garten. Er sagte, das ist ja schrecklich, was mit Luise passiert ist. Angemerkt? Angemerkt haben wir ihm nichts.“

Die Dame, die das sagt, sagt das ein Jahr danach. Als sie wieder im Garten steht, ihre Beete von Unkraut befreit, die Harke für einen Moment zur Seite stellt und ihren Arm am Holzgriff abstützt. Und dann?

„Dann war ich geschockt. Man liest so etwas in der Zeitung, aber dass es in der Nachbarschaft passiert.“ Ein Satz ohne echtes Ende.

Die Fensterscheiben sind stumpf, die Gardinen dahinter gerissen. Den Sonnenschirm vor der Tür hat seit einem Jahr niemand aufgespannt. Den Briefkasten hat irgendjemand zugeklebt. Im Haus des Mörders fehlt das Leben. Nebenan bringt ein Pflegedienst das Mittagessen, gegenüber baumeln Kinderstrumpfhosen an der Wäscheleine. Im Dorf des Mörders geht das Leben weiter.

„Ein Jahr danach ist es weg. Man redet nicht mehr drüber.“ Sagt eine zweite Dame im Ort, die ihren Vormittag im Garten verbringen kann. „Der Täter tut einem auch irgendwie leid.“

„Wäre sie später nach Hause gekommen.“ Wieder ein Satz ohne Ende.

Wenn die Rentnerin vor ihr Haus tritt, sieht sie die Werbung der Saison: Spargel, Erdbeeren, alles im Direktverkauf. Sie sieht Kuhmäuler, die aus einer Stalltür lugen. Sie sieht St. Gertrud, die Kirche mit den weißen Fachwerkbalken. Die Kirche, die Luise Brinkmann am Sonntag besucht hat, bevor sie am Donnerstag danach in ihrem Haus von einem guten Bekannten erwürgt worden ist.

Carsten Stock hat an diesem Sonntag die Predigt gehalten, danach noch einen Schnack mit Luise Brinkmann gehalten. Als er hört, dass die Großmutter Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist, geht er zu ihrem Hof. Er muss das rot-weiße Absperrband der Polizei sehen, um es glauben zu können. Um begreifen zu können, dass passiert ist, was in Pattensen doch nicht passieren kann.

„Obwohl es mitten unter uns war, war es irreal“, sagt der 46-Jährige ein Jahr danach. „Das, was durch Nähe über Jahrzehnte unvorstellbar war, ist real geworden. Und nah. Das hat viele tief erschüttert. Wie ein Beben, das durchs Dorf ging.“ Carsten Stock hat mit Männern und Frauen gesprochen, die gesagt haben: Mit ihm bin ich doch zur Schule gegangen. Mit ihm bin ich doch konfirmiert worden. Wie kann so etwas passieren. „Es war für sie unfassbar. Da waren Hilflosigkeit und Ohnmacht.“

Auf dem Land sagt man: Unter jedem Dach ein Ach. Man weiß, dass die Menschen unterschiedliche Dinge zu tragen haben. Dass einer von ihnen aber so großen Hunger hat, dass er bei einer alten Frau einbricht und ... Wieder einer der Sätze ohne Ende. „Einerseits kennt man sich schon so lange, und man weiß doch nicht, wie es dem anderen in der Tiefe geht.“ Sagt Pastor Stock.

Ein Jahr nach dem wohl furchtbarsten und tragischsten Verbrechen, das ein Dorf sich vorstellen kann, ist es doch dasselbe geblieben. „Ich würde nicht sagen, dass das Dorf ein anderes ist. Auch nicht, dass die Leute traumatisiert sind. Dafür ist das Dorf zu heterogen. Es gibt viele Zugezogene, die in Hamburg arbeiten. Die haben das Verbrechen vermutlich als weiter weg empfunden als die Einheimischen, deren Familienverbunde sich seit Jahrzehnten kennen, auch seine Familie schon lange kennen.“ Die Dorfgemeinschaft mit ihren Vereinen und ihrer Nachbarschaftshilfe funktioniert auch nach dem Wachstum von 1200 auf 2000 Einwohner innerhalb von 50 Jahren.

Doch das Idyll ist gebrochen. „Uns ist bewusst geworden, was passieren kann. Was in unserer Mitte möglich ist – nicht nur in Großstädten. Dieses Bewusstsein wird bleiben: dass man nicht außerhalb von diesen schlimmen Dingen lebt.“ Sagt Pastor Stock.

Ein Jahr, nachdem Karl-Werner Voigt auf der Suche nach Essen eine 83-jährige Großmutter erwürgt hat, die nach einem Nickerchen zum Geburtstag ihres Enkels fahren wollte, hat der Bundesgerichtshof die Revision des Angeklagten zurückgewiesen.

Das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 21. November 2013 ist rechtskräftig, Klaus-Werner Voigt ist wegen Mordes und Raubes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Und kann damit rechnen, nach 15 Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis zu kommen. „Der braucht sich hier nicht mehr blicken zu lassen.“ Das sagt eine dritte Dame im Dorf und unterbricht für einen Moment die Arbeit an ihrer Hecke. „Hätte er etwas zu essen gestohlen, wäre das irgendwie zu klären gewesen. Aber so.“ Wieder so ein Satz ohne ein Ende.

Weil die Nachbarn das Ende nicht aussprechen wollen. Sie müssten aussprechen, was da passiert ist vor einem Jahr, ein paar Häuser weiter. Dass der Mann, mit dem sie alle schon Hunderte Klönschnacks am Gartenzaun gehalten haben, eine seit Jahrzehnten im Dorf lebende Seniorin umgebracht hat.

Unaussprechlich, diese Tatsache. Diese Tragödie. Die Dame an der Hecke sagt noch, hätte er einen Landwirt gefragt, er hätte etwas bekommen. Hätte er Luise gebeten, sie hätte ihm sicher etwas gegeben. Wie wenig Geld er tatsächlich hatte, habe niemand geahnt.

Es ist der 1. Juni 2013, der Tag nach seinem Mord, als Karl-Werner Voigt beim Schlachter einbricht. Der Mann erwischt ihn und ruft die Polizei. Klaus-Werner Voigt wird nicht noch einmal zum Mörder. Er läuft weg. Als er abends vor dem Fernseher sitzt und die Polizei an seiner Tür klingelt, wirkt er nicht sonderlich überrascht. Auch bei der toten Frau hatten die Ermittler Spuren von ihm gefunden.

Als einen Albtraum wird er gegenüber seinem psychiatrischen Gutachter bezeichnen, was am 30. Mai passiert ist. Seine Gefühle, sagt der Arzt vor Gericht, habe er nicht beschreiben können. Dass es ihm leid tue, das sagte er nicht. Seine Mutter, erzählen die Damen im Dorf, weiß von all dem nichts.

Luise Brinkmann ist erstickt. Zungenbein, Schildknorpel und Hinterhorn waren gebrochen. Ihre Angehörigen fanden sie tot im Bett. Sie hatten sich Sorgen gemacht, weil Oma nicht wie angekündigt zum Kaffee kam. Auf ihrem Grabstein geht eine Sonne unter, rosarote Eisbegonien blühen in einem Bogen zum Stein ihres Mannes.

Dass er derjenige ist, der die alte Frau gewürgt hat, gibt Karl-Werner Voigt von Anfang an zu. Vor Gericht hat er erst am Tag der Urteilsverkündung bei den Angehörigen von Luise Brinkmann um Vergebung gebeten.

*Aus Rücksicht auf die Angehörigen wurden die Namen geändert.