Marode Straßen, Brücken und Kanäle. Der Verkehr steckt im Stau. In der fünfteiligen Abendblatt-Serie geht es um mögliche Lösungen. Teil 1: Die Infrastruktur der Metropole

Kaum einer kennt Straßen, Schienen und Wasserwege in der Hansestadt so gut wie Gunther Bonz. Der Generalbevollmächtigte bei Eurogate und Präsident des Unternehmensverbands Hafen Hamburg hat bis 2008 in verschiedenen Funktionen in der Wirtschaftsbehörde gearbeitet, zuletzt als Staatsrat. Mit ihm sprach Matthias Iken.

Hamburger Abendblatt:

Lange Zeit war Deutschland für seine Infrastruktur berühmt, inzwischen ist es eher berüchtigt. Wann begann der Niedergang von Straßen, Schienen und Wasserwegen?

Gunther Bonz:

Finanziell begann er Anfang der 80er-Jahre und beschleunigte sich noch nach der Wiedervereinigung. Die Länder und der Bund haben zu viel Geld für Sozialtransfers und zu wenig Geld für den Unterhalt und den Ausbau der Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Wir haben heute 30 bis 40 Prozent mehr Straßen als vor der deutschen Einheit, aber die Finanzmittel sind inflationsbereinigt nur noch halb so groß. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Sind die Schäden an der Rader Hochbrücke oder den Schleusen des Nordostseekanals, die uns jetzt treffen, die ersten Symptome eines 30-jährigen Versagens?

Bonz:

Jahrzehntelang ist die deutsche Infrastruktur auf Verschleiß gefahren worden. Es ist wie bei einem Haus, das man nicht instand hält – nach 30 Jahren regnet es durchs Dach. An diesem Punkt stehen wir jetzt. Das Problem ist: Es ist für Politiker leichter, das knappe Geld für soziale Wohltaten zu verteilen, als etwa in den Straßenbau zu investieren. Straßen halten ja vermeintlich ewig, zumindest fallen die Schäden bis zur nächsten Wahl noch nicht auf.

Sie haben lange in Hamburger Behörden gearbeitet – sah man das Problem dort nicht oder drangen die Warnungen nicht zu den Entscheidern durch?

Bonz:

Wir haben das Thema immer wieder adressiert und in der Planung auch Gelder umgeschichtet. Beispielsweise sollte ja eine Milliarde aus dem HHLA-Börsengang in die Infrastruktur fließen, leider ist einiges davon versickert.

Wie viel ist nicht angekommen?

Bonz:

Nach meinem Kenntnisstand knapp zehn Prozent, die nach meiner Kenntnis unter anderem für die Unterbringung von Asylbewerbern ausgegeben wurden.

Norddeutschlands Politiker fühlen sich seit Jahrzehnten bei Verkehrsprojekten vom Bund stiefmütterlich behandelt. Ist die Situation hier besonders dramatisch?

Bonz:

Das ist in anderen Teilen der Republik nicht anders: So ist die Rheintalbrücke in Köln dauerhaft gesperrt, weil sie nicht in ihrer Substanz erhalten wurde. Die Zulieferer der Ford-Werke müssen deshalb viele Kilometer Umweg in Kauf nehmen. Von über 5000 deutschen Autobahnbrücken sind ca. 3000 nicht mehr voll funktionsfähig. Schwerlastverkehr aus dem Süden kann nicht mehr auf kürzestem Wege unsere Häfen erreichen, sondern nur mit großen Umwegen, das ist weder ökologisch noch ökonomisch nachhaltig.

Worunter leidet der Hamburger Hafen besonders? Unter den maroden Schleusen im Nordostseekanal, der Dauerbaustelle A7 oder der Elbvertiefung, die weiter auf sich warten lässt?

Bonz:

Die Punkte würden für sich allein schon reichen; das Problem und die Herausforderung aber ist, dass alles zusammenkommt. Wir gehen wegen der Versäumnisse der Vergangenheit durch ein Tal der Tränen. Das wird ein harter Belastungstest auch für unsere mittelständische Wirtschaft. Ein Beispiel: Als die Elbtunnelröhren in den vergangenen Jahren saniert wurden, sind über 300.000 TEU Ladung an den dänischen Hafen Fredericia verlagert worden. Deshalb versuchen Terminalbetriebe derzeit mit einer optimierten Verkehrssteuerung, solche Verluste in Zukunft zumindest zu verringern.

Stichwort Elbvertiefung: Benötigt der Hafen sie wirklich? Die größten Schiffe erreichen den Hafen jetzt schon.

Da müssen Sie sich die Schiffe mal anschauen, die kommen natürlich nicht voll beladen hier an. Noch vertrauen die Reeder darauf, dass die Elbvertiefung kommt und schicken die großen Schiffe weiter nach Hamburg. Sie werden aber umdisponieren, sollte das Bundesverwaltungsgericht die Fahrrinnenanpassung stoppen. Dann wird Ladung verloren gehen – und Arbeitsplätze. Das bezweifeln nicht mal die Kritiker. Aber sie nehmen den Jobverlust in Kauf – nach Angaben der Umweltverbände gehen dann circa 4000 Arbeitsplätze in Hamburg verloren.

Die maritime Wirtschaft in der Hansestadt besteht aus vielen Branchen – zum Beispiel Finanzdienstleistern, Klassifizierern, Kanzleien, die kaum auf die Elbvertiefung angewiesen sind...

Bonz:

Sollte die Fahrrinnenanpassung nicht kommen, beginnt ein schleichender Erosionsprozess der Schwächung, der viele Branchen trifft. Das mag auf den ersten Blick harmlos sein, ein paar Stellen hier, ein paar Stellen da; aber in der Summe wäre das für den Standort ein Drama.

Wie lange werden uns die Probleme mit dem Nordostseekanal zusetzen?

Bonz:

Der Kanal mit seinen Schleusen wird uns mindestens genau so lange beschäftigen wie der Ausbau und die Überdeckelung der A7 – also bis 2020. In Brunsbüttel haben zwei Schleusen ihre Altersgrenze nach mehr als 100 Jahren erreicht; diese kann man nicht im laufenden Betrieb erneuern. Daher haben wir nun auf dem Kanal eine Einbahnstraße. Die Folgen versuchen die Terminalbetreiber HHLA und Eurogate durch eine Feeder Logistik Zentrale zu minimieren, indem der Umschlag auf die Kanaldurchfahrt abgestimmt wird. Dafür geben Hamburger Terminalbetriebe viel Geld aus. Diese Zusatzkosten haben Konkurrenten nicht.

Haben Dänen oder Holländer seit Jahren mehr in Straßen und Schienen investiert?

Bonz:

In Dänemark gibt es diese Probleme nicht – ganz im Gegenteil. Der Inselstaat baut seine Infrastruktur weitsichtig aus, weil sie lebensnotwendig für die dänische Wirtschaft ist. Schauen Sie sich allein die Brücken- bzw. Tunnelprojekte an, mit welcher Macht das kleine Dänemark derzeit die Fehmarnbelt-Querung vorantreibt. Da könnten wir uns mehrere Scheiben von abschneiden. Auch für Niederländer und Belgier haben Häfen und ihre Infrastruktur immer oberste Priorität gehabt. Das ist in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten leider nicht immer so gewesen.

Hamburg rühmt sich, wegen seiner Schienenanschlüsse ein besonders umweltfreundlicher Hafen zu sein.

Bonz:

Wir sind immer noch europaweit führend, was das Schienennetz und seine Steuerung betrifft. Zwei Drittel des Güteraufkommens der Deutschen Bahn kommen aus den deutschen Seehäfen, der größte Anteil davon aus dem Hamburger Hafen. Die Bahn hat auch eine wesentlich bessere CO2-Bilanz als der Lkw, ein Grund, warum der Hamburger Hafen eine bessere CO2-Bilanz hat als viele europäische Häfen.

Wenn die gute Fee käme und Sie hätten drei Wünsche frei, welche wären das?

Bonz:

Erstens mehr Geld für die Infrastruktur. Zweitens die Reduzierung der bürokratischen Verfahren inklusive der Tragweite des Verbandsklagerechts. Und drittens wünsche ich mir mehr Verständnis bei den Bürgern. Straßen und Schienen sind ein Wohlstandsast, der mehr Geld benötigt. Vielen Bürgern ist nicht bewusst, dass der günstige CD-Player oder Rasierer im Geschäft nur deshalb zu diesem Preis angeboten werden kann, weil dahinter eine komplizierte und funktionierende Kette von Transportprozessen steht.

Hat Hamburgs Bürgermeister die Dringlichkeit der Situation erkannt?

Bonz:

Hamburgers Bürgermeister Olaf Scholz hat nach meiner Kenntnis maßgeblich in den Koalitionsverhandlungen dazu beigetragen, dass der Verkehrsetat aufgestockt wird. Das ist eine der großen Leistungen der Großen Koalition. Nur lassen sich Versäumnisse von 30 Jahren nicht in drei Jahren aufholen. Wir gehen durch ein Tal der Tränen, aber am Ende können wir nur mit einer sanierten und ausgebauten Infrastruktur im Wettbewerb punkten.

Ist das auch der Kanzlerin bewusst?

Bonz:

Ich gehe davon aus. Es bedarf aber immer einer machtpolitischen Konstellation, die einen Umschwung herbeiführen kann. Je länger abgewartet wird, desto dramatischer sind die Folgen – denken Sie an die Agenda 2010. Wenn wir uns in Hamburg alte Pläne anschauen, sind viele wie der Großflughafen Kaltenkirchen, die Stadtbahn, die Hafenquerspange oder der Autobahnring nie Wirklichkeit geworden.

Woran liegt das?

Bonz.

In Hamburg hat es in den 70er-Jahren eine Bewegung gegeben – ausgelöst durch die sog. 68er-Genration –, dass Verkehr etwas Schlechtes ist. Der Stadt fehlt ein Autobahnring, zentrale Verbindungstrassen sind nicht gebaut worden. Diese Versäumnisse sind heute nicht mehr aufzuholen. Andere Metropolen wie München oder Frankfurt waren vor 30, 40 Jahren weitsichtiger.

Was bedeutet das für Hamburg?

Bonz:

Heute müssen wir reparieren und kleinteilig Verbesserungen schaffen. Daneben benötigen wir ein Leitbild von einer wachsenden Metropolregion mit der erforderlichen Infrastruktur – ein Leitbild, welches auf mehrere Jahrzehnte angelegt ist. Infrastruktur ist das schwerfälligste Instrument im Wirtschaftsprozess, aber entscheidend für den Erfolg einer Industrie- und Handelsnation wie Deutschland.