Nach Feuer mit drei Toten im Februar: Wieder brennt Kinderwagen in Wohnhaus. Pizzabotin beobachtet Verdächtigen

Eißendorf. Es waren dramatische Szenen, die sich in der Nacht zum Dienstag am Volkswohlweg im Harburger Stadtteil Eißendorf abspielten. Verzweifelt kletterten Bewohner eines brennenden Mehrfamilienhauses, darunter auch ein Kind, auf das Dach, um vor dem giftigen Rauch zu flüchten. Feuerwehrleute retteten die Menschen über eine Drehleiter. 13 Bewohner erlitten eine Rauchvergiftung. Neun von ihnen, darunter drei kleine Kinder, mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Polizei ist sicher: Es war Brandstiftung. Der unbekannte Täter hatte im Treppenhaus einen Kinderwagen angezündet.

Die Polizei hat auch schon eine Spur zu dem möglichen Brandstifter. Es könnte ein etwa 35 Jahre alter Mann sein, der unmittelbar vor Ausbruch des Feuers von einer Pizzabotin gesehen wurde. Der Verdächtige hatte ein rotes T-Shirt an und trug eine schwarze Jogginghose mit blauen Streifen. Der Mann ist von kräftiger Statur und hat sehr kurze, schwarze Haare. Die Pizzabotin dachte sich nichts dabei, als sie ihn gegen 22.50 Uhr in dem dreigeschossigen Gebäude sah, in dem sie im ersten Stock eine Pizza auslieferte.

Kurz darauf brach in dem Haus das Feuer aus. Auf dem Treppenabsatz vor dem Keller, in dem mehrere Kinderkarren und Kinderwagen sowie Fahrräder standen, loderten Flammen. Dichter schwarzer Rauch zog durch das Treppenhaus und breitete sich in den langen Fluren aus.

Alles ging so schnell, dass die Pizzabotin nicht mehr aus dem Gebäude kam. Sie flüchtete zurück in die Wohnung ihrer Kundin, in der auch zwei kleine Kinder waren. „Wir haben dann die Tür zugemacht und die Feuerwehr gerufen“, sagt die Mieterin, die kurz vor dem Feuer noch Pizza bestellt hatte. „Dann sind wir auf den Balkon. Die Kinder haben wir hinuntergereicht. Wir selbst sind über Leitern vom Balkon geholt worden.“

Zwei Türen weiter wohnt Bernhard Klöck. „Ein Nachbar hat bei uns an die Tür geklopft und uns gewarnt“, sagt der Mann, der seit 19 Jahren in dem Haus wohnt. „Meine Frau und meine Tochter hatten schon geschlafen. Als die wach waren, kamen wir nicht mehr durch das Treppenhaus raus. Der Rauch war schon zu dicht.“ In der Wohnung wartete die Familie die Löscharbeiten ab. „Viele der Bewohner haben den Fehler gemacht die Wohnungstür zu öffnen“, sagt Joachim Behneke, Einsatzleiter der Feuerwehr. „Durch den dichten Rauch kann man nicht flüchten.“ Dafür drang dieser sofort in die Wohnungen ein. Während die Mieter aus dem ersten Stock auf die Balkone flüchten konnten, mussten sechs Bewohner des ausgebauten Dachgeschosses auf das Dach flüchten. 13 Bewohner, darunter auch drei Kinder im Alter von ein bis sieben Jahren, klagten über Atembeschwerden.

Die Brandermittler des Landeskriminalamts (LKA) begannen noch in der Nacht mit der Spurensicherung. „Wir gehen von vorsätzlicher Brandstiftung aus“, sagte Polizeisprecher Holger Vehren. Wie der Brand gelegt wurde, sollen kriminaltechnische Untersuchungen ergeben. Am Tatort wurden bislang keine Spuren eines Brandbeschleunigers entdeckt. Die Kriminalisten wollen deshalb die verbliebene Asche der Kinderwagen untersuchen. Erst im Februar waren eine Mutter und ihre beiden Söhne in Altona-Nord bei einem Feuer getötet worden.

Auch damals war ein Kinderwagen angezündet worden. Warum jemand einen Brand legt, kann unterschiedliche Gründe haben, sagt Psychotherapeut Christian Lüdke. Selten seien es sogenannte Pyromanen, krankhafte Brandstifter, die mit den Taten ein Gefühl von Rauschzuständen erleben.

Häufiger (63 Prozent) würden Brände von Menschen gelegt, die sich vom Leben enttäuscht fühlen. „Oftmals sind darunter Schulversager oder Schulabbrecher“, sagte Lüdke. Sie fühlen sich als Versager, wollen aber als gleichwertige Person wahrgenommen werden. Die meisten Täter seien zwischen 25 und 45 Jahren alt und fast ausnahmslos männlich.

Die Tat, über die dann groß berichtet wird, gebe ihnen das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Lüdke sieht darin einen paradoxen Versuch der Eigentherapie: Die eigene Ohnmacht kanalisiere sich in einem gefährlichen Allmachtsgefühl. Nach dem Motto: „Wenn ich nicht geliebt werde, will ich gehasst werden“, sagt der Psychotherapeut. Manchmal spielten aber auch Motive wie Rache oder Vergeltung eine Rolle. Dabei agieren die Täter hoch aggressiv, nehmen in Kauf, dass der Brand nicht kontrolliert werden kann, dass Menschen verletzt oder sogar getötet werden können.

Dass die Täter dabei mit geringem Aufwand eine große Wirkung erzielen wollen, erklärt vielleicht, warum so oft Kinderwagen in Hausfluren angezündet werden. Letztlich aber bleibe die Tat gesichtslos. Entsprechend schnell komme der Wunsch nach Aufmerksamkeit wieder, sagt Lüdke, was in eine Serie von Brandstiftungen münden könne.