Was haben IBA und igs der Elbinsel gebracht? Neubürger, Alt-Wilhelmsburger, Gewerbetreibende, Pfarrer, Sportler und Kita-Betreiber schildern ihre Eindrücke. Eine Zwischenbilanz zum lang geplanten Sprung über die Elbe

Wilhelmsburg. Ebru und Luca Monelletta haben oft gefröstelt in letzter Zeit. So richtig warm ist es in ihrer Wohnung in den kalten Wintertagen nicht geworden. Dabei ist das Haus neu – und kann mit seiner energieintelligenten Fassade das ganze Jahr über Energie erzeugen. Sogar mehr als es verbraucht. „In einem Passivhaus wird es aber ohnehin nicht besonders warm. Und weil unsere Heizung nicht richtig funktionierte, waren es teilweise nur 18 Grad“, sagt Ebru Monelletta, 34. Die Familie hat in der Wilhelmsburger Mitte im „Smart ist grün“ eine Wohnung gekauft, das Gebäude ist Teil der Internationalen Bauausstellung. Für die ein- und dreijährigen Söhne, die viel am Boden spielen, war die Kälte oft unangenehm, erzählt die Mutter. Sie selber habe sich sehr geärgert, weil sie viele enervierende Telefonate mit dem Bauträger habe führen müssen. Auch ein bisschen einsam war der Winter für die Betriebswirtin im Mutterschutz, denn in dem neuen Quartier gibt es nur wenige Familien. Die kennenzulernen sei schwer, „denn die Planer haben wohl mehr ans Klima als an die Bewohner gedacht“. Sie haben zwar in jeden Garten eine kleine Sandkiste gesetzt – doch einen gemeinsamen Spielplatz, wo sich Eltern und Kinder kennenlernen können, gibt es nicht. Ebenfalls ärgerlich: Die Kita am Inselpark, die der dreijährige Enrico seit letztem Sommer besuchen sollte, öffnet wegen einer Bauverzögerung erst im April.

Doch vor ein paar Wochen hat sich das Blatt gewendet. Enrico hat einen Übergangsplatz in einer anderen Kita gefunden. Mit Paolo geht Ebru Monelletta oft in die Elternschule im Reiherstiegviertel, die unter anderem Mutter-Kind-Kurse und Ausflüge anbietet. Darüber hat sie viele Kontakte geknüpft. Damit sich auch die Bewohner der Neuen Mitte besser kennenlernen, plant sie mit Nachbarn ein Sommerfest. Außerdem hat sie eine Mama-Community ins Leben gerufen, um mit anderen Müttern gemeinsam zum Spielplatz auf dem alten igs-Gelände – dem neuen Inselpark – zu ziehen.

Von der Infrastruktur ist die Neu-Wilhelmsburgerin begeistert. „Sowohl am S-Bahnhof als auch im Reiherstiegviertel gibt es alles für die Nahversorgung, sogar Wochenmärkte“, sagt sie. Ihre Freizeit verbringt die Familie in ihrem kleinen Schrebergarten im Inselpark – oder auf einer ihrer Entdeckungstouren über die Elbinsel. „Es gibt hier so viele interessante, unterschiedliche Ecken – besonders in Alt-Wilhelmsburg“, sagt Ebru Monelletta. Dorthin ist vor Kurzem auch ihre Mutter gezogen; die Monellettas haben in Wilhelmsburg eine neue Heimat gefunden.

Eine kleine Erfolgsgeschichte wurde also schon einmal geschrieben. Doch es sollte ja eine große werden: der „Sprung über die Elbe“. Die Internationale Bauausstellung und die Internationale Gartenschau sollten Wilhelmsburg aufwerten, einen Stadtteil, der jahrzehntelang ein Stiefkind der Politik war. Vielmehr musste die Elbinsel unter den Lasten großstädtischen Geschehens leiden: Hafen- und Ölindustrie, Schwerlastverkehr, eine Bahnschneise mitten im Stadtteil und eine eher einkommensschwache Bevölkerung mit hohem Migrationsanteil. Besonders die IBA sollte Abhilfe schaffen: mit experimentellem Wohnungsbau und neuen Wohnformen, einer positiven Nutzung der kulturellen Vielfalt, neuen Arbeitsstätten, einer großen Bildungs- und Klimaoffensive – und das alles mit Bürgerbeteiligung und ohne dass erhöhte Mieten zu Verdrängung führen.

Hat das funktioniert? „Es gibt eine Aufwertung ohne Vertreibung“, sagt Lutz Cassel vom Beirat für Stadtteilentwicklung Wilhelmsburg, der IBA und igs von Anfang an kritisch begleitet hat. Eine Erhöhung der durchschnittlichen Mieten sei bisher nicht festzustellen. Und was haben IBA und igs den „Alt-Wilhelmsburgern“ gebracht? „Eine abschließende Bilanz ist noch nicht möglich“, sagt Manuel Humburg vom Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg. Eines aber sei sicher: Die Ausstellungen hätten für Aufbruchstimmung gesorgt. Neue Menschen belebten den Stadtteil und brächten sich konstruktiv ein – wie jüngst bei einer öffentlichen Diskussion darüber, ob der Zaun um das ehemalige Gartenschaugelände bleiben oder abgerissen werden soll. Die Bildungsoffensive erreiche mit ihren Einrichtungen wie dem Schulzentrum „Tor zur Welt“ oder dem „Mediendock“ viele Menschen. Im Reiherstiegquartier veränderten neue Läden das Straßenbild. Und im „Weltquartier“ gebe es auch nach der aufwendigen Sanierung ausschließlich Sozialwohnungen; die Sozialbindung bestehe hier mit 30 Jahren sogar deutlich länger als üblich.

„Dennoch bleibt die Bauausstellung in zwei Bereichen hinter den Erwartungen zurück“, sagt Humburg, der früher Arzt in Wilhelmsburg war. Etwa bei der Klimabilanz, die ja nicht nur auf energetischer Sanierung beruhe, sondern auch auf dem Verkehr. „Da hat die IBA außer einer Elektrotankstelle vor einem Haus nicht viel vorzuweisen“, sagt Humburg. Auch seien keine „Duftmarken“ beim Thema Bauen und Wohnen gesetzt worden. Weil die IBA-Planungen bereits weit fortgeschritten waren, als der Senat ein Programm für Wohnungsbau erließ, habe sie darauf nicht mehr reagieren können. Statt Mustersiedlungen der Zukunft für viele Menschen zu bauen, seien experimentelle Gebäude für nur wenige Bewohner entstanden. Zudem habe sich die IBA nur auf die Mitte des Stadtteils konzentriert, Veddel und Kirchdorf etwa seien nicht mitentwickelt worden. „Solange es in der Mitte noch freie Flächen gibt, sollten die Kirchdorfer Wiesen im Osten oder der Hafenbereich im Westen nicht besiedelt werden“, entgegnet IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg. Er teilt auch nicht Humburgs Einschätzung zur Klimabilanz: Die ersten Etappenziele seien erreicht. Bis auf die Industriebetriebe würden 13 Prozent der Wilhelmsburger Häuser mit Wärme und 30 Prozent mit Strom aus dem Stadtteil versorgt. Uli Hellweg wertet die Ausstellungen als großen Erfolg. „Die IBA und die igs haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich Wilhelmsburg zu einem normalen Hamburger Stadtteil entwickeln kann“, sagt er. Das strukturpolitische Ziel der IBA, den Niedergang der Elbinsel zu stoppen, sei erreicht: Die Bevölkerung wachse doppelt so schnell wie im Hamburger Durchschnitt, das Wohnungsangebot sei vielseitiger geworden und bezahlbar geblieben. Es sei eine kulturelle Vielfalt entstanden, die sich positiv auf Vereine, Bildungseinrichtungen, Jobangebote und Kleingartenkultur auswirke. „Der Stadtteil, der bis vor fünf Jahren als grau bezeichnet wurde, gilt jetzt als bunt“, so Hellweg.

Verschiedene Akteure auf der Elbinsel bestätigen das: Die auf 4350 Mitglieder geschrumpfte evangelisch-lutherische Reiherstieg-Kirchengemeinde wächst wieder. „Wir haben jeden Monat 20 Mitglieder zusätzlich“, sagt Pastor Vigo Schmidt. Dass wieder mehr Familien mit christlichem Bekenntnis auf die Elbinsel ziehen, führt er auf die IBA zurück, die attraktive Schulen geschaffen habe. Einen beginnenden Bevölkerungswandel registriert auch der Wilhelmsburger Ruder-Club von 1895. Der Vorsitzende, Horst-Walter Gosh, freut sich über den sprunghaften Anstieg von zusätzlich 34 neuen Mitgliedern innerhalb der vergangenen zwölf Monate, hauptsächlich Studenten und junge Berufstätige. Den Grund dafür sieht auch er in dem Zuzug von Neubürgern infolge von IBA und Gartenschau.

Die Leiterin des Kindergartens an der Sanitasstraße bemerkt ebenfalls eine sich verändernde Mischung in der Bevölkerung. Dort werden viele Kinder aus den neu gebauten Wohnprojekten im Reiherstiegviertel angemeldet, unter den Eltern sind Sozialpädagogen, Lehrer und Kreative. Damit verändere sich auch die Elternarbeit in dem Kindergarten, sagt Leiterin Frauke Henning. „Die Eltern fragen mehr nach, wollen mehr Begründungen haben.“ Der Bevölkerungswandel scheint sich auf das Reiherstiegviertel zu beschränken, der Kindergarten im Wilhelmsburger Ortsteil Kirchdorf meldet nur vereinzelt Kinder von Neubürgern.

Die Planungen für das Reiherstiegviertel gehen nach dem Ende der Bauausstellung weiter. Im Jahr 2015 will der Bezirk Mitte den nördlichen Teil der Veringstraße zu einer verkehrsberuhigten Geschäftsstraße umgestalten. Damit könnte dort eine Gastronomiemeile entstehen. Die Lokale auf dem Straßenabschnitt mit Tapas-Bar, Café und portugiesischem Restaurant bekämen die Möglichkeit, mehr Plätze auf der Straße anzubieten. Der Filialleiter des bekannten Crêpes-Restaurants Plattenladen begrüßt das: „Die Idee finde ich super“, sagt Vasili Dimiropolos. Er erwartet mit der höheren Aufenthaltsqualität an der Veringstraße mehr Gäste aus dem Hamburger Norden.

Die IBA sei ein Gewinn für die Elbinsel, sagt Lutz Cassel vom Stadtteilbeirat. Bei der Gartenschau bleibe das abzuwarten. „Obwohl viele Bäume gefällt wurden, hat man die Struktur des Geländes erhalten und Sportanlagen und Kleingärten integriert“, so der Musiker. Das sei gut. Doch das ursprüngliche Versprechen, den Park für alle frei zugänglich zu machen, werde voraussichtlich nicht eingehalten. „Hier wird der Bezirk wortbrüchig, weil er das Gelände nachts aus Angst vor Vandalismus komplett abschließen will“, so Cassel. Die Wilhelmsburger wollten sich aber nicht als potenziell kriminell einstufen lassen. Mit dem Kompromiss, dass nur einige Bereiche eingezäunt blieben, könnten sie dagegen leben.