Kaum eine andere Straße gilt wie die in St. Georg als Gradmesser für Stadtteilentwicklung. Bewohner beklagen den Rückgang des Einzelhandels. Aber stimmt das? Das Abendblatt hat zweimal hingeschaut – vor 15 Jahren und heute

Mensch, Lange Reihe, was ist aus dir geworden! Dich erkennt man ja kaum wieder, du pulsierende Aorta von St. Georg, dem ersten Hamburger Quartier, in dem die Gentrifizierung so richtig zugeschlagen hat – neudeutsch für „Verdrängung“ (vulgo „Vertreibung“) der Ureinwohner aus ihrem vermeintlichen Paradies der Gegensätze, von schmutzig über gediegen bis bunt; das, was eine Bahnhofsgegend eben ausmacht.

Man könnte aber auch fragen: Hast du dich wirklich so verändert? Oder kriegst du deinen hohen Blutdruck allmählich wieder in Griff? Blicken wir deshalb zurück: Vor 15 Jahren, als zwei Reporterteams des Hamburger Abendblatts loszogen, um auf den etwa 250 Metern zwischen Schmilinskystraße und Carl-von-Ossietzky-Platz die Läden auf Angebot und Umsatz zu prüfen, galt die Lange Reihe als „freakigste“ und „schrillste“ Einkaufsmeile der Stadt. Das lag vor allem an der interessanten, fast schon kruden Mischung aus alteingesessenen Einzelhandelsgeschäften, trendigen Modegeschäften und extrem unterschiedlichen gastronomischen Betrieben, was das Angebot der Speisen sowie die Preisgestaltung betraf.

In der Hausnummer 94 beispielsweise, im Musikfachhandel Da!, kaufte der amerikanische Singer-Songwriter Tom Waits seine Ukulele; es gab Modegeschäfte mit ebenso preiswerter wie extrem ausgefallener Mode (etwa J.P.Cover, so eine Art Luxus-Resterampe der Edelboutiquen) sowie mehrere Fachgeschäfte für fernöstliches Kunsthandwerk (bis heute: Everest, Himalaya). Doch eine Haustür weiter dann plötzlich wieder kleinstädtischer Charme: mit dem Kaashandel (Hausnummer 57), dem Fachgeschäft für Bettwäsche (Betten Sass, Nummer 29) oder Friseur Brech (Nummer 48): Die Tochter hatte schon die einstige Glaserei ihres Vaters in den Haarsalon umgewandelt. Ein paar Schritte weiter der Schall-Platten-Laden (Vinyl bekam gerade seinen Status als „Retro-Artikel“ verpasst); davor war ein Metzger drin gewesen, den sich bereits damals – vor 15 Jahren – die stolzen St. Georger zurückwünschten. Gentrifizierung ist daher anscheinend so neuartig nicht.

Heute hat sich auf demselben Straßenabschnitt in rund 35 Prozent der Läden das Warenangebot geändert, nicht selten sogar mehrmals. Einige Geschäfte sind durch Umbaumaßnahmen neu hinzugekommen, andere Unternehmen, wie das alteingesessene, schwule Reisebüro Global Village, sind dagegen ein paar Hausnummern weiter die Lange Reihe rauf oder runter gezogen. Andere wiederum haben den Betreiber gewechselt. So ist aus der Boutique von Thomas Stoess, wo Cosma Shiva Hagen sich bevorzugt einkleidete, vor gut sechs Jahren die Boutique Holling geworden. Richtig auffällig ist jedoch, dass es die gastronomischen Betriebe sind, die mittlerweile rund 40 Prozent aller Gewerbebetriebe in der Langen Reihe ausmachen, und das seien „einfach viel zu viele“, sagt Michael Joho, Vorsitzender des Einwohnervereins, der nicht müde wird zu beteuern, wie sehr er den „kleinen Hökern“ nachtrauert. Eine Entwicklung zu einem Aushängeschild der Stadt, die von Bezirksamt und Senat so gewollt gewesen sei. Deshalb genehmige der Bezirk auch immer wieder den Bau neuer Hotels. „Doch dadurch wird ein Automatismus in Gang gesetzt, der die bestehenden Gewerbestrukturen gefährdet. Wo Touristen sind, da siedeln sich mehr Kneipen an, und die werten das Viertel auf. Doch die Anwohner empfinden das als Verlust ihres Raumes.“ Die Stammgäste der Pension Blumfeld (Nummer 54) dürften deren Abriss eher als Verlust empfinden. 14 Hotelzimmer weniger an der Langen Reihe, ein Neubau mit Wohnungen wird hochgezogen.

Auch Dat Backhus oder Nur Hier (die Hamburger Bäckereikette baut am Carl-von-Ossietzky-Platz eine Art „Flagship-Store“ – dafür ist Budnikowsky raus) können weder zu „den kleinen Hökern“ gezählt noch ernsthaft als freakig bezeichnet werden. Überhaupt Backwaren: Gleich fünf Bäcker mit Restauration, dazu zahlreiche Cafés buhlen in unmittelbarer Nachbarschaft um Kunden. „Der Trend zum Kaffee to go nebst kleinem Snack hält nicht nur an, er wird sogar größer“, heißt es aus der Lübecker Marketingagentur Die Brotschafter, die für viele Bäckereiketten in Standortfragen beratend tätig ist. Hierüber kann Robert Wohlers, einer der bekanntesten Buchhändler der Stadt, nur den Kopf schütteln. Sein durch Mieterhöhung erzwungener Umzug von der Hausnummer 68 in die Nummer 40 – das ehemalige Pasta- und Weingeschäft der Sterne-Köchin Anna Sgroi, die wiederum nach Pöseldorf abwanderte – war ein Medienspektakel. „Überall gibt es Veränderungen“, sagt Wohlers, „aber diese Veränderungen passieren halt immer schneller.“ So ist zum Beispiel aus dem Kupferkrug an der Ecke Schmilinskystraße (vor fünf Jahren an den Mundsburger Damm umgezogen) ein chinesisches Restaurant geworden. Es hielt sich nicht lange. „Moment mal“, sagt die nette Bedienung im Hacker-Pschorr-Bräu (wie die Gaststätte heute heißt), „war vorm Chinamann nicht auch ein Vietnamese hier drin?“ Ihre Stammkunden am Tresen, längst wieder an den deutschen Zapfhahn zurückgekehrt, zucken die Schultern. „Keine Ahnung!“ – „Na dann eben nicht!“

Am ursprünglichen Standort des Buchhändlers Wohlers ist inzwischen die t.boutique eingezogen, wo neben knapp 100 Teesorten auch Tee-Seminare angeboten werden. „Zahlen Sie wirklich die dreifache Gewerbemiete von Herrn Wohlers, also angeblich 4500 Euro statt ursprünglich 1500?“ Die Geschäftsführung schüttelt den Kopf: „Kein Kommentar!“

Andererseits geriert die Geschäftswelt sich entlang der Bürgersteige in großen Teilen auch als beständig: Der Lotto-Toto-Laden in der Nummer 51 mag dafür ein Beispiel sein, das Hamburger Nähmaschinenhaus in der Nummer 61 wie auch der Weinkauf St. Georg (ebenfalls Nummer 61), und die Birnen-Tarte im Café Gnosa ist auch nach 15 Jahren unverändert unverschämt gut. Das Thema „Veränderung der Geschäftswelt“ ist eben komplex. Es wird von drei Hauptfaktoren bestimmt, erstens, sicherlich, den Mieten: „Klar können viele kleinere Geschäfte sich die Pacht nicht leisten“, sagt eine Modeverkäuferin, die jedoch nicht genannt werden möchte, „aber das liegt nicht nur daran, dass die Gewerbemieten wie die Mieten allgemein im Viertel gestiegen sind, sondern weil die Kaufkraft der Kunden in St. Georg maßlos überschätzt wird, sodass sich einige einfach nicht tragen können.“ Faktor zwei ist das Einkaufsverhalten, das zunehmend vom Online-Geschäft bestimmt wird. Das kann man bei Optik Beckert (Hausnummer 55) täglich erleben: „Hier kommen Kunden rein, weil ihre Internet-Brille nicht sitzt. Und dann verlangen sie, dass ich Ihnen das kostenlos hinbiege.“

Faktor drei schließlich ist das Image der Langen Reihe, Ursprung der fröhlichen, bunten, kreativen, intellektuellen, aber manchmal auch leicht durchgeknallten Schwulenbewegung in der Hansestadt: „Nur weil einmal im Jahr hier der Christopher Street Day startet, ist die Lange Reihe doch noch lange nicht freakig“, sagt ein älterer Stammgast des Cafés Gnosa (Nummer 93), der sich selbst als stolzen St. Georger bezeichnet, „im Gegenteil: Wir, die wir hier leben, empfinden unser Quartier als ziemlich entspannt und normal.“ Einschränkend fügt er hinzu: „Na ja, zumindest so lange, bis im Sommer wieder die Touristen kommen.“