Der Umbruch der Ukraine zeigt: Die EU hat versäumt, die Russland-Politik neu zu ordnen

Revolutionen breiten sich aus wie ein Tropfen auf einem Fetzen Stoff. Sie beginnen in einem Zentrum, dort, wo Staatsmacht und Demonstranten erstmals aufeinanderprallen. Der Tropfen sickert schnell in den Stoff ein – dann breitet sich der Fleck langsam aus. In der Ukraine fiel dieser Tropfen auf den Maidan, den großen Platz im Zentrum Kiews. Dort versammeln sich seit Monaten nun schon die Gegner des autokratischen Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Doch nun ist der Fleck gewachsen – und das ist für die Opposition wichtiger als jede gewonnene Straßenschlacht in der Hauptstadt. Die Proteste dehnen sich im proeuropäisch und nationalistisch geprägten Westen des Landes aus. In Ternopol und Iwano-Frankowsk besetzte die Opposition Rathäuser. Die Proteste in den Provinzen zeigen noch etwas: Es gibt nach Jahren von Krisen, Protesten und Wut so etwas wie eine demokratische Basis. Eine junge Generation, die nach einer freien Gesellschaft giert – und nicht nach Geld. Sie sind die Abgeordneten von morgen, die Demokraten einer neuen Ukraine.

Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Es besteht durch die Proteste die Gefahr, dass das Land noch weiter zerreißt. Denn der Osten des Landes ist stark prorussisch geprägt. Die meisten sprechen dort Russisch, lesen russische Bücher in der Schule, schauen russische Fernsehsender.

Das verdeutlicht vor allem eines: Der Weg der Ukraine in eine stabile Lage – vielleicht in eine Demokratie – wird nicht allein mit der EU oder nur mit Russland funktionieren, er wird nicht entschieden zwischen Ost und West. Die Ukraine der Zukunft braucht beides: Russland und die EU.

Doch die Diplomatie zwischen der EU und Russland ist auf einem Tiefpunkt. Zusammen könnten beide eine Lösung finden für die Ukraine. Doch derzeit sind EU und Russland Teil des Konflikts.

Die Schuld daran trägt nicht allein der zaristisch regierende Wladimir Putin. Europa ist einem Irrtum aufgesessen: Lange hatten die EU-Politiker geglaubt, dass sich Russland immer stärker an den Westen annähern werde. 1994 unterzeichnete die EU mit Moskau ein erstes Abkommen. Von da an sollte alles automatisch laufen: Kulturaustausch, Geschäfte, Diplomatie. Doch Russland ging einen anderen Weg – und die EU reagierte darauf nicht. Schon 2003 änderte Russland seine Außenpolitik: weg von Europa, in Richtung Zentralasien, China, Aserbaidschan, Türkei. Nach dem Georgien-Krieg 2008 handelte die EU ihrerseits Assoziierungsabkommen im Südkaukasus aus. Europa buhlte um Russlands Nachbarländer. Moskau hielt dagegen, mit Gas und Geld. Im Kreml herrschte das Gefühl, die EU setze auf Machtpolitik im Osten – auf eine eurasische Konkurrenz zu Russland. Moskaus Staatschefs monierten eine „unnatürliche Ausbreitung“ des Westens, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte.

Gleichzeitig war die EU bequem – vielleicht gar arrogant. Brüssels Diplomaten nahmen an, dass auch Staaten wie die Ukraine oder Armenien mit offenen Armen in Richtung EU rennen. Sie taten es nicht. Armenien schloss sich der russischen Zollunion an. Die Ukraine steht am Scheideweg. Doch längst ist klar: Ohne Russland bleibt die Lage in dem Land instabil. Zu groß ist die Macht der russlandhörigen Oligarchen-Elite in Kiew.

Umso wichtiger wäre nun der Dialog zwischen EU und Moskau. Hätte Europa noch Einfluss auf Putins Politik, könnten sie gemeinsam eine Lösung für die Ukraine einleiten. Doch Russland hat kein Interesse. Und die EU keinen Einfluss. Heute treffen sich Vertreter der EU und Putin zum Gipfel. Eigentlich wollten beide Seiten zwei Tage lang über alle Probleme diskutieren. Doch es herrscht Eiszeit. Das Treffen wurde verkürzt: Es dauert gerade noch zwei Stunden.