Ist Lena unglücklich, ritzt sie sich die Haut auf. Ihre Freundin Laura erklärt, warum sich Menschen selbst verletzen. Das Ritzen ist besonders unter Jugendlichen verbreitet.

Lena rennt weinend in ihr Zimmer, schlägt die Tür zu und verschließt sie. Voller Trauer und Hass öffnet sie die kleine Kiste in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks. Sie setzt die Klinge an den Unterarm. „Es fühlt sich an, wie ein Adrenalin-Rausch, und meine Hände fangen plötzlich an zu zittern“, erzählt mir meine Freundin mit leiser Stimme. „Mit jedem Schnitt kann ich mich endlich wieder mehr spüren und etwas von dieser Leere loslassen. Die Klinge muss bei jedem Mal schärfer sein und mit jedem Schnitt schneide ich mir tiefer in die Haut. Immer tiefer. Je mehr Blut ich sehe, desto stärker bekomme ich meine Bestätigung und meine Bestrafung. Denn ich bin eh immer schuld und einfach nie gut genug.“ In Lenas Augen erkenne ich eine Mischung aus Faszination und Trauer.

Ein viel zu selten beschriebenes Thema: das Ritzen. Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft, wissen nicht, was die Gründe fürs Ritzen sind und stempeln dieses Verhalten als dumm ab. Tatsächlich ist Ritzen oder selbst verletzendes Verhalten (SVV) eine psychische Krankheit und besonders unter Jugendlichen verbreitet.

Schätzungsweise 800.000 Menschen in Deutschland haben sich mehrere Male in ihrem Leben selbst verletzt und Kinder- und Jugendpsychiater beobachten in den vergangenen 30 Jahren eine Zunahme dieses selbst verletzenden Verhaltens, vor allem in der Gruppe der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Fünf bis 20 Prozent der Jugendlichen ritzen sich – Mädchen bis zu zehnmal häufiger als Jungen. Das ist das Ergebnis mehrerer Studien aus unterschiedlichen Ländern, wobei die Tendenz in westlichen Ländern stark steigend ist. Auffällig ist, dass besonders Mädchen betroffen sind, was damit zu begründen ist, dass Frauen, anders als Männer, Aggressionen eher gegen sich selbst richten. Selbst verletzendes Verhalten ist häufig ein Bestandteil von Erkrankungen, wie Borderline- oder Essstörungen, an denen auch hauptsächlich Frauen leiden.

Doch eindeutig ist die Zahl der Betroffenen in Deutschland nicht, doch man vermutet, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt, da selbst verletzende Menschen ihr gestörtes Verhalten meist verstecken. Tatsächlich gilt jeder vierte bis fünfte Jugendliche, der sich selbst verletzt, als nicht gefährdet. Eltern sind oft ahnungslos und unaufmerksam und zu sehr abgelenkt vom Beruf und Alltag. Doch es gibt bestimmte Signale, die auf eine SVV hinweisen können, wie zum Beispiel, das ständige Tragen langärmeliger Oberteile auch bei warmen Temperaturen oder beim Sport. Auch ziehen oft Betroffene die Ärmel bis hoch zu den Daumen. Ebenfalls ein Signal können blutbefleckte Kleidungsstücke oder Möbel sein. Oft sind diese Personen sehr still, zurückgezogen und verschlossen und könnten niemandem jemals was zuleide tun – außer sich selbst. Aber auch besonders fleißige, überehrgeizige, perfektionistische Menschen sind oft betroffen.

Für jede außenstehende Person, die sich nie selbst verletzt hat oder sich nicht mit diesem Thema beschäftigt hat, ist es unverständlich, wieso man sich absichtlich Schmerzen zufügen sollte und noch weniger, wieso man nicht aufhören könne damit. Die genauen Ursachen für SVV sind bei jeder betroffenen Person unterschiedlich. Oft entsteht es durch belastende und überfordernde Ereignisse, mit denen der Betroffene nicht umzugehen weiß, dass können traumatisierende Erlebnisse wie Missbrauch sein, die Trennung der Eltern, aber auch schon ein einfacher Konflikt mit der Familie. Das Ritzen befreie die Betroffenen von seelischem Schmerz und löse die Anspannung und den Druck für den Moment. Sie haben das Gefühl, sich nach grauer, innerer Lehrer wieder mehr zu spüren und wieder ein Gefühl zu haben. Auch bestrafen sich manche Betroffene mit dem Ritzen, weil sie sich für alles die Schuld geben. Eine ganz gegensätzliche Ursache kann das Streben nach Aufmerksamkeit sein, wobei die Betroffenen dann die Narben nicht verstecken.

In den meisten Fällen können die Betroffenen nicht mehr aufhören. Woran liegt das? Selbst verletzendes Verhalten besitzt Suchtcharakter, denn es setzt vermutlich Endorphine frei. Diese entwickelt der Körper, um zunächst den Schmerz zu unterdrücken. Man kann mit viel Disziplin selbst verletzendes Verhalten besiegen.

Therapeutische Hilfe wird empfohlen, weil hier Ursachen gefunden werden können und Wege erarbeitet werden, wie der oder die Betroffene mit Problemen umgehen kann, ohne sich zu verletzen. Bei besonders ausgeprägten Fällen kann auch eine stationäre Therapie in einer speziellen Klinik aufgesucht werden. Je früher selbst verletzendes Verhalten erkannt wird, desto schneller kann es behandelt werden und die Betroffenen haben gute Chancen auf Heilung. Es gibt Hilfe, doch die Betroffenen trauen sich häufig nicht, sie zu nutzen. Meine Freundin Lena hat sich zu einer Therapie entschlossen. „Ich wusste immer, dass ich Hilfe brauche“, sagt sie. „Aber allein, mich jemandem zu öffnen, war schon ein Problem. Nach sehr langer Zeit sehe ich nun das erste Mal wieder so etwas wie Hoffnung für mich. Ich weiß, mein Weg wird lang und schwer sein, doch ich bin froh, dass es für mich überhaupt einen Weg gibt.“