Zuwanderung gilt als Bedrohung oder Beglückung – die Wahrheit liegt dazwischen

Es gibt Meldungen, die machen sprachlos: Die konservative Regierung in Australien etwa lässt ihren drastischen Worten im Wahlkampf Taten folgen und möchte illegale Einwanderer nun schon auf dem Meer stoppen: Der Premier will Flüchtlinge in Seenot einfach auf andere Boote verfrachten und zurückschicken. In Großbritannien, dem Land mit großer demokratischer Tradition, wetteifern die Kandidaten um die ausländerfeindlichste Aussage. Premier David Cameron hat sogar versprochen, die Zuwanderung unter 100.000 pro Jahr zu drücken. Die vermeintlich liberalen Dänen haben ihr Einwanderungsrecht längst dramatisch verschärft, und Italien klagt sogar schon Retter von Flüchtlingen in Seenot wegen Beihilfe zur illegalen Einreise an. Wie Europa mit Einwanderern umgeht, ist beschämend.

In Deutschland hingegen führen wir ganz andere Debatten. Die zugegeben einfache Parole der CSU „Wer betrügt, der fliegt“ wird unverzüglich zum rechtsradikalen Ausfall hochstilisiert. In der Hansestadt werden Politiker wie Olaf Scholz oder Michael Neumann, die gleiches Recht für alle Zuwanderer fordern und von der Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge die Offenlegung ihrer Personalien verlangen, in (a)sozialen Medien als Mörder verunglimpft. Und von Verirrten gar als Vorwand für Randale im Schanzenviertel oder für Gewalt gegen Polizeibeamte missbraucht.

Vielleicht sollten die Verbalradikalen mal ein paar Blicke auf die Fakten werfen. Deutschland ist nach Zählung des Hilfswerkes der Vereinten Nationen UNHCR Vorbild bei der Aufnahme von Flüchtlingen: Mit aufgenommenen 590.000 Menschen liegen wir zwar deutlich hinter Pakistan und dem Iran, aber weit vor allen anderen Industriestaaten – unter den zehn großen Aufnahmeländern findet sich kein weiterer Staat aus Amerika oder Europa. Etwas anders wird das Verhältnis, wenn man die Einwohnerzahl berücksichtigt. Hier ist Schweden noch offener.

Die Skandinavier zeigen auf der einen Seite, dass mehr möglich ist, auf der anderen Seite aber auch, welche Folgen eine große Zuwanderung und mangelnde Integration mit sich bringen können: die Unruhen in Stockholm im Sommer 2013 etwa oder massiven Auftrieb für Rechtsradikale. Das Beispiel Schweden deutet wie die radikale Politik klassischer Einwanderungsländer eine unbequeme Wahrheit an: Es gibt Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Diese werden eben nicht nur von Wirtschaftsinteressen definiert, sondern auch von subjektiven Gefühlen der Mehrheitsgesellschaft. Man mag die weit verbreiteten Vorbehalte gegen Zuwanderer schlimm finden, ignorieren darf man sie nicht. Eine realistische Politik muss vielmehr hier ansetzen: Vorurteile ausräumen, Integrationsangebote machen – und großzügig Grenzen definieren. Das ist Realpolitik im besten Sinne. Der derzeit in Deutschland verbreitete romantische Ansatz ist aller Ehren wert, aber wirkt naiv. Dieses Land kann mehr machen, das stimmt. Angesichts der Millionen Flüchtlinge wird Deutschland das Problem der weltweiten Wanderungsbewegungen aber nicht allein lösen können. Dies gilt erst recht in einem Europa, das sich immer mehr zu einer Festung ausbaut.

Mehr Realismus ist in der deutschen Debatte überfällig: Weder droht eine Völkerwanderung, wie einige an die Wand malen, noch werden lauter Hochqualifizierte ins Land drängen und die demografische Krise beheben, wie Schönredner weismachen. Zuwanderung ist eine Realität, die ohne Romantik politisch gestaltet werden muss. So wenig wie hier Stammtischparolen weiterhelfen, so wenig nützt der permanente moralische Druck auf die Entscheidungsträger. Dieser sollte besser auf die umgelenkt werden, die sich in unsäglichem Egoismus einer Linderung des Flüchtlingselends verweigern – siehe oben.

Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur des Abendblatts