Korrekturen von Missbildungen und Behandlungen aller Art verhelfen vielen Einheimischen – vor allem Kindern – zu einem besseren Leben. Die Erfolge motivieren trotz aller Schwierigkeiten zum Weitermachen.

Mohammed ist wütend. Er weint. Sein Bein tut wieder weh, weil ihm nach einem halben Jahr die Metallplatte entfernt wurde, die seinen Oberschenkel stabilisiert hat. Dass die Operation medizinisch notwendig war, interessiert ihn im Moment nicht. Er will endlich wieder schmerzfrei laufen können.

Drei Tage später sieht es schon besser aus. Die ersten wackeligen Gehversuche vor dem Krankenbett hat der Elfjährige hinter sich. Die Aussicht auf eine Zukunft auf zwei gesunden Beinen siegt über den nachlassenden Wundschmerz. Und diese Zukunft war nicht selbstverständlich nach seinem Sturz vom Mangobaum – mit offenem Bruch als Folge. Denn im staatlichen Edward Francis Small Teaching Hospital (EFSTH) in der Hauptstadt Banjul war keine Hilfe zu bekommen. Es ist zwar mit 540 Betten das größte Krankenhaus Gambias und bildet als Universitätsklinik auch Mediziner aus. Aber ohne Geld und Beziehungen ist nichts zu machen. Und selbst wer beides hat, kann noch daran scheitern, dass es am nötigen Material für eine Operation fehlt.

Geholfen wurde Mohammed in der kleinen Klinik des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Dippakunda, einem Ortsteil der größten Stadt Gambias, Serekunda. Vor allem dank ehemaliger Bundeswehrbestände verfügt sie über einen gut ausgestatteten Operationsraum und das notwendige Material. Sie ist autark in der Stromversorgung, die hierzulande des Öfteren zusammenbricht. „Es gehört schon zur Routine, solche Fälle zu behandeln. Besonders sind aber alle Operationen, durch die eine Behinderung des Kindes vermieden werden kann. Niemand sollte im Rollstuhl sitzen, nur weil eine Oberschenkelfraktur nicht vernünftig versorgt werden kann. In der westlichen Welt ist das ja kein Thema, aber hier ist das immer noch sehr schwierig“, sagt Gudrun Lehmbeck, die medizinische Leiterin des kleinen Hospitals. Zusammen mit Beatrice Weigelt, zuständig für die administrative und kaufmännische Seite des Projekts, sorgt sie seit elf Jahren für das Funktionieren der Einrichtung, die vom ASB-Ortsverband Hamburg-Mitte und dem Kreisverband Lüneburg betrieben wird.

Auf die eben erst aus Mohammeds Bein entfernte Platte wartet bereits der nächste Einsatz. Der neue Patient heißt ebenfalls Mohammed – nennen wir ihn Mohammed II. Er ist zehn Jahre alt, hat sich den Oberschenkel vor zwei Monaten beim Ringen gebrochen. Seine Mutter hat mit ihm zuerst den traditionellen Heiler im Dorf aufgesucht. Knochenbrüche sind offensichtlich nicht dessen Spezialgebiet. Das Röntgenbild aus der Universitätsklinik zeigt parallel liegende Bruchenden, die falsch zusammenwachsen. Statt eines Termins zur Behandlung gab es aber immer nur Vertröstungen. Mohammed II sitzt bangen Blickes im Rollstuhl. Und wenn nicht bald eingegriffen wird, bleibt er den Rest seines Lebens an diesen gefesselt. Seine Mutter Ngogi Suwareh schildert den Fall, und Gudrun Lehmbeck erläutert, was zu tun ist. Operation möglichst bald; Dr. Samathe, erfahrener Chefchirurg vom EFSTH, würde sie ausführen.

Aber schon türmt sich das nächste Problem auf. Eine Krankenversicherung gibt es nicht. Auch die heimischen Mediziner haben Familien zu versorgen, und das Budget der Klinik reicht natürlich nicht aus, alle Patienten kostenlos zu versorgen. So ergibt sich folgende Rechnung: 15.000 Dalassi für den Chirurgen, 2000 für den Anästhesisten, 10.000 für das Material der Klinik, vier Wochen stationärer Aufenthalt schlagen mit 5600 Dalassi zu Buche, Medikamente mit 7400: Summa summarum 40.000 Dalassi bei einem Kurs von etwa 1:50 etwa 800 Euro. Eine vergleichbare Operation würde in Deutschland um die 20.000 Euro kosten. Aber das enorme Preisgefälle hilft Mohammeds Mutter jetzt auch nicht. Sie hat noch vier weitere Kinder und einen Mann, der sein Glück seit ein paar Monaten in Kentucky versucht. Bisher ohne Glück – und deshalb auch ohne Geld.

Die große Finanzkrise schlägt auch auf die 1,7 Millionen Einwohner des kleinen westafrikanischen Landes durch. Beatrice Weigelt beschreibt die Situation: „Die meisten Leute haben Verwandte im Ausland. Aber da die Situation fast überall schlechter geworden ist, ist auch das Geld, das nach Gambia zurückfließt – was oft mehr war als das gesamte Bruttosozialprodukt –, deutlich weniger geworden. Zuerst fallen immer die Hilfsarbeiterjobs in den Industrieländern weg, die oft von Afrikanern besetzt werden. Viele Patienten bezahlen ihre Rechnungen nicht mehr. Die Preise für die Grundnahrungsmittel, Strom und Energie sind zugleich gestiegen. Die Löhne aber nicht. Überleben ist dann erst mal das Wichtigste, die Gesundheit kommt dann immer zum Schluss. Dafür wird von den Leuten auch wenig privat zurückgelegt.“

Für Mohammed II und seine Mutter ist guter Rat also zunächst teuer. Da aber noch Blutkonserven anzulegen und andere Vorbereitungen zu treffen sind, bittet Gudrun Lehmbeck die Frau, ihre Verwandten um Hilfe zu ersuchen und in drei Tagen wiederzukommen.

Inzwischen geht der Klinikalltag weiter. Mittwochs und sonnabends ist Impftag. Es ist Sonnabend, und wieder werden etwa 100 Kinder immunisiert – von Masern bis Gelbfieber ist eine breite Palette zu absolvieren. Spritze linker Arm, Spritze rechter Arm, eine ins Bein und – während kräftig geschrien wird – noch die Polio-Schluckimpfung in den Mund. Die meisten der Babys wurden auch hier geboren. Ihre Mütter haben sich und ihren Kleinen den Sonntagsstaat angelegt und warten geduldig im Hof der Klinik, bis sie an der Reihe sind. So ein Arztbesuch ist schließlich eine wichtige Sache. Außerdem will jede die Schönste sein. Auch in Dippakunda, einem ärmeren Teil der Halbmillionenstadt Serekunda, einem unübersichtlichen Konglomerat von mauerumsäumten Familienanwesen, wenigen mehrstöckigen Geschäftsbauten und noch weniger asphaltierten Straßen. Deren Verlassen zwingt Autofahrer wegen einer mindestens zehn Zentimeter hohen unbefestigten Kante automatisch zum Schritttempo. Und viel schneller werden sie dann auf den unbefestigten, in der Trockenzeit staubigen und während der Regenzeit morastigen Nebenstraßen nicht mehr.

An einer solchen Nebenstraße liegt auch die ASB-Klinik. „Wir haben bewusst diesen Standort gewählt, weil wir hier am nächsten an den Menschen sind, die uns am dringendsten brauchen“, begründet Gudrun Lehmbeck die Wahl. Aber der Ruf der Einrichtung reicht weit über den Stadtteil und sogar die Grenzen des Landes hinaus. Auch aus dem Senegal, aus Mali oder Guinea kommen Patienten. Insgesamt bis zu 30.000 pro Jahr.

Viele suchen die Zahnstation auf, die von Berliner Ärzten eingerichtet wurde. Mehrere von ihnen reisen jedes Jahr in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten an, um zu praktizieren und das örtliche Personal zu schulen. Wichtig ist dem ASB vor allem auch das FACE-Projekt. Einmal im Jahr kommen Fachärzte aus Deutschland, um Gesichtsmissbildungen zu korrigieren. Die Zahnärzte und die Chirurgen des FACE-Projekts reisen in der Trockenzeit von November bis April an. Dann sind nicht nur Temperaturen und Luftfeuchtigkeit für Europäer erträglicher, auch die Infektionsgefahr für die Patienten ist deutlich geringer.

Bevor Anfang Februar operiert werden kann, müssen die Fälle begutachtet und aufgelistet werden. Das übernimmt Gudrun Lehmbeck in einem kleinen Behandlungszimmer zusammen mit Oberschwester Njabou. Diese spricht die wichtigsten Sprachen des Landes – Wolof, Fulfulde, Mandinka, Serer und Englisch, das zwar Amtssprache ist, aber bei Weitem nicht von allen gesprochen oder verstanden wird, besonders nicht auf dem Lande. Vor allem geht es um die Korrektur von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und gutartigen Geschwülsten. Kinder mit entstellten Gesichtern gelten als des Teufels, werden an den Rand der Gesellschaft gedrückt. „Ich habe auch schon an vielen Projekten mitgearbeitet, bei denen es hinterher schwierig war, die Nachhaltigkeit zu erkennen – warum hat man viele Gelder ausgegeben, was hat man über Wochen gearbeitet, und was ist davon geblieben? Das ist bei dem FACE-Projekt einfach. Es kommt ein Säugling, der im Gesicht total entstellt ist, er wird operiert, und schon nach einer Woche kann der Patient entlassen werden und beginnt sozusagen ein neues Leben. Er ist nicht mehr dämonisiert in der Gesellschaft“, sagt die erfahrene Entwicklungshelferin Lehmbeck.

Hof und Flure sind voll mit geduldig Wartenden. Neben Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder Neurofibromatose finden sich zwei kleine Patienten mit Hydrocephalus (Wasserkopf). Statt sie mit einer Drainage zu versorgen, wurde ihnen im staatlichen Krankenhaus die Schädeldecke geöffnet – und dabei noch mehr Schaden angerichtet. Es kommen auch Menschen mit Pigmentstörungen nach Verbrennungen. Ein kosmetisches Problem, das die auf Unversehrtheit großen Wert legenden Afrikaner zwar belastet, aber kein Fall für das FACE-Projekt ist. Oder ein junger Mann mit einem zehn Jahre alten Knochenbruch, der sich irgendwoher ein Attest für eine Auslandsbehandlung besorgt hat. Mehr der Versuch, nach Europa zu kommen, als von einem alten Gebrechen geheilt zu werden. Bis Ende Januar wird noch für den Operationsmarathon gesichtet und registriert. Wenn diese Saison bewältigt ist, werden insgesamt 500 Menschen über die Jahre ein neues Gesicht und damit die Chance auf ein besseres Leben erhalten haben.

Darauf hofft auch immer noch Mohammed II. Er sitzt auf einem der acht Betten der Krankenstation. Schräg gegenüber Mohammed I, inzwischen bester Laune und schon wieder ganz gut zu Fuß. Die Mutter des zweiten Mohammed war bei der verwandtschaftlichen Geldakquise mäßig erfolgreich. Genau genommen hat sie erst mal nichts. Aber das ist nicht das Ende aller Hoffnungen. Der ASB schießt die Kosten vor, und die Mutter verpflichtet sich, binnen des nächsten halben Jahres, bis auch bei Mohammed II die Metallplatte wieder entfernt werden muss, möglichst viel Geld zu sparen. „Wir können und wollen nicht ganz umsonst behandeln“, erklärt Beatrice Weigelt. „Die Leute müssen wissen, dass diese Arbeit einen Wert hat. Und wer gar nichts hat, bringt wenigstens etwas zu essen vorbei.“ Diese Möglichkeit der Anerkennung nehmen selbst die ärmsten Patienten wahr.

Denn Geldprobleme haben nicht nur die Patienten. Auch die Klinik will unterhalten sein. Das Gebäude ist gemietet, 35 Angestellte vom Laboranten über Buchalter und Krankenschwestern bis zur den Putzfrauen und den Wachmännern wollen bezahlt sein. Etwa 75 Prozent der Kosten können durch Behandlungsgebühren selbst erwirtschaftet werden. „Das heißt, wir müssen für die restlichen 25 Prozent immer Fundraising machen. In manchen Jahren läuft das ganz gut, in anderen ist es aber ein mühsames Geschäft“, sagt Beatrice Weigelt. „Wir leben auch immer ein bisschen von der Hand in den Mund.“ Und auch in Afrika gibt es Regeln. „Am Jahresende wird abgerechnet, und die NGO-Bestimmungen hier im Land besagen, dass wir einen Wirtschaftsprüfer haben müssen. Sein Bericht wird dem Innenministerium vorgelegt. Nur wenn alles positiv ist, bekommen wir den Status als NGO (Nichtregierungsorganisation, d. Red.) für ein weiteres Jahr.“

„Viele kommen nach Afrika, wollen helfen und vergessen, dass man auch hier Gesetze und Vorschriften beachten muss“, ergänzt Gudrun Lehmbeck. „In vielen Projekte kommen die Ärzte angeflogen und beginnen zu arbeiten. In keinem afrikanischen Land ist das aber so erlaubt. Es gibt auch hier eine Ärztekammer, bei der unsere deutschen Ärzte ihre Approbationsurkunde vorlegen müssen. Dann bekommen sie ein Zertifikat und können Patienten behandeln. Und es ist auch richtig so, dass man sich daran hält.“ Zudem stehen ausländische Organisationen unter der Beobachtung der Regierung. Bei Verstößen gegen die Regeln kann deren Arbeit sehr schnell beendet sein.

Die Erfolge motivieren trotz aller Schwierigkeiten zum Weitermachen. „Diese Klinik gibt es jetzt seit elf Jahren. Wir haben alle notwendigen Medikamente, und wir können die Patienten versorgen. Daran haben wir hart gearbeitet, die Klinik hat eine gute Reputation, und wir haben vielen Menschen geholfen. Für mich ist das ein echtes Vorzeigeprojekt. Und wenn der ASB Hamburg käme, und alle seine Sachen, die er einmal als Hilfsgüter hierhergebracht hat, wieder abholen würde, dann wäre die Klinik leer.“

Zum Glück für Mohammed II passiert das natürlich nicht. Der ist inzwischen operiert. Dreieinhalb Stunden hat der Eingriff gedauert. Und in einem halben Jahr darf er dann wütend sein und weinen, wenn die Metallplatte wieder entfernt wird.

Wer das Projekt unterstützen möchte, kann spenden an:

ASB-Ortsverband Hamburg-Mitte e.V.

Commerzbank Hamburg

IBAN: DE96 2008 0000 0054 5454 00

Stichwort: Gambia-Kinder