Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, hält die Forderung nach Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren für eine „Klage von Wohlstandsbürgern“. Initiatorin Mareile Kirsch reagiert empört.

Hamburg. In ungewöhnlich scharfer Form attackiert Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, diejenigen, die sich eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wünschen. „Das ist eine Klage von Eltern aus der Mittel- oder Oberschicht, die ihre Kinder nachmittags Tennis spielen lassen wollen“, sagte er der dpa. Er halte die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren für Gymnasiasten für einen Fehler. „Ein Bundesland, das international denkt, würde überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, G9 bestehen zu lassen oder gar wieder einzuführen“, so Lenzen. Statt am Gymnasium sollten die Abiturienten in einem Universitätskolleg auf die Hochschule vorbereitet werden. „Die Studierfähigkeit der jungen Menschen kann die Universität nur selbst herstellen, das kann ein Gymnasium nicht.“

„Dass die Zeit in der Oberstufe in die Länge gezogen war, ist ja schon daran zu sehen, dass Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder im 11. Schuljahr nach Amerika geschickt haben“, so Lenzen. Die Verkürzung führte nicht zu mehr Druck auf die Schüler, ist er überzeugt. Das Hamburger System solle so bleiben, wie es ist, Ruhe und Planungssicherheit würden gebraucht. Zudem befürchtet er Kosten in Millionenhöhe, wenn das Schulsystem wieder umgekrempelt wird.

Die Volksinitiative G9-Jetzt-HH fordert die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium und möchte das per Volksentscheid erwirken. Die 16.730 Unterschriften dafür hatte die Initiative im November an die Senatskanzlei übergeben. Nun muss die Bürgerschaft entscheiden, ob sie dem Anliegen zustimmt. Der Senat ist gegen eine Abschaffung des Turbo-Abis und verweist auf die Möglichkeit, an Stadtteilschulen die Hochschulreife nach neun Jahren abzulegen. Andere Bundesländer haben eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Abitur nach 13 und nach zwölf Schuljahren bereits eingeführt.

Empört zeigt sich Mareile Kirsch, G9-Jetzt-HH-Initiatorin, darüber, dass der Uni-Präsident sich vor dem Auszählen der Unterschriften einmischt. „Herrn Lenzen mangelt es an Respekt. Er erteilt den Eltern eine Abfuhr, noch bevor die Stimmen ausgewertet sind.“ Das 13. Schuljahr an die Uni zu verlagern als Vorbereitungsjahr vor Beginn des Studiums zur Vermittlung von Grundlagenwissen sei „ein völlig absurder Vorgang“. Man nehme den Kindern ein Schuljahr, um es dann später im Universitätskolleg wieder heranzuhängen. „Diese Studienvorbereitung kostet die Eltern mehr Geld, als wenn ihre Kinder noch ein Jahr länger zur Schule gehen würden. Schließlich studieren viele ja nicht in ihrem Heimatort“, so Frau Kirsch.

Derzeit sind bis zu 50 Studienanfänger pro Neusemester an der Uni Hamburg noch nicht volljährig. Der Uni-Präsident sieht kein Problem darin, dass sich 17-Jährige an der Universität einschreiben lassen und dazu die Unterschrift der Eltern brauchen. In China, den USA und in Teilen Europas werde die Hochschulzugangsberechtigung zwischen dem 16. und dem 17. Lebensjahr erworben, sagte Lenzen. Darauf folge dort normalerweise ein Bachelor-Studiengang von acht Semestern – und nicht nur sechs wie in Deutschland. Darin enthalten sei in diesen Ländern die Vermittlung von Grundlagenwissen. Eine Aufgabe, die zu Zeiten von G9 noch an den deutschen Gymnasien in der Oberstufe vorgesehen gewesen sei. Lenzen: „Aber da gehört sie nicht hin.“

Das heutige Bildungsverständnis der Schulen unterscheide sich zu sehr von dem der Universitäten. Deshalb sei – wie in Hamburg bereits eingeführt – ein Universitätskolleg notwendig. Dieses sei Bindeglied zwischen Schule und Universität. Es vermittle das Handwerk für das wissenschaftliche Studium. Mareile Kirsch: „Herr Lenzen entzieht den Gymnasien die Fähigkeit, die Schüler zur Hochschulreife zu bringen. Das wäre eine Bankrotterklärung der Schulpolitik der letzten zehn Jahre.“

Auch Walter Scheuerl, parteiloser Abgeordneter der CDU-Fraktion in der Bürgerschaft, übt Kritik. „Die Thesen von Herrn Lenzen sind gefährlich für den Bestand des Gymnasiums und den Bildungsstandort Deutschland“, sagte Scheuerl dem Abendblatt. Das deutsche Gymnasium sei bisher weltweit die angesehenste Schulform, vor allem weil es die Allgemeine Hochschulreife – im Gegensatz zu den oft bereits fachlich reduzierten Schulformen in anderen Ländern – vermittelt. Scheuerl: „Indem Lenzen dem Gymnasium diese Aufgabe abspricht und den Universitäten mittels Studier-Vorbereitungsjahr die Aufgabe übertragen will, die Schulabgänger auf ein bestimmtes fachliches Studium vorzubereiten, reduziert er die Gymnasien auf allgemeine Schulen ohne eigenständige Existenzberechtigung.“ Die Forderung von Lenzen diene der Aufwertung der Universitäten. „Dem Ansehen unseres Bildungssystems und des Gymnasiums als der deutschen Bildungsinstitution schadet sie.“