Fast 1000 Hamburger Sozialdemokraten diskutierten drei Stunden lang bei der Regionalkonferenz über das mit CDU und CSU ausgehandelte Vertragswerk für eine Große Koalition.

Es wäre nur zu konsequent gewesen, die Regionalkonferenz der SPD zum Koalitionsvertrag mit der Union in den Großen Festsaal des Rathauses zu verlegen. Für Bürgermeister Olaf Scholz ist der hallenartige Raum mit den großformatigen Bildern des Malers Hugo Vogel aus der Geschichte Hamburgs ohnehin „einer der schönsten Säle dieser Stadt“, wie Scholz beim Mitgliedertreffen am Dienstag bekannte.

Doch dem Sozialdemokraten ging es weniger um Schönheit, sondern mehr um politische Symbolik. Im Großen Festsaal, so der Bürgermeister vor seinen Parteifreunden, werde „die ganze Republikgeschichte sichtbar, die Hamburg über die Jahrhunderte mit sich trägt“. Das war für den eher nüchternen Norddeutschen eine schon ziemlich patriotische Aufwallung.

Und genau darum ging es bei der Regionalkonferenz, auf der fast 1000 Hamburger Sozialdemokraten über das mit CDU und CSU ausgehandelte Vertragswerk für eine Große Koalition drei Stunden lang diskutierten: Scholz und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel holten zum großen Griff in die 150-jährige Geschichte der SPD aus. Sie wollten die Genossen von der Regierungsbeteiligung überzeugen, indem sie sie bei der sozialdemokratischen Ehre zu packen versuchten. Oder anders gesagt: Neben allen parteitaktischen und sachlichen Argumenten für das schwarz-rote Bündnis, die der SPD-Chef und sein Vize auch servierten, ging es um den starken Appell an das Wir-Gefühl der Parteimitglieder, verbunden mit einem kräftigen Schuss (Lokal-)Patriotismus.

Der Große Festsaal wäre der ideale Rahmen gewesen, um die Genossen historisch-milde zu stimmen und in seliger Erinnerung an gewonnene Schlachten zu schwelgen, aber er kam als Ort der Regionalkonferenz selbstverständlich nicht infrage. Eine Parteiveranstaltung im Rathaus – das geht überhaupt nicht. Hier tagen der Senat und die Bürgerschaft mit ihren Ausschüssen, hier treffen sich die Fraktionen. Aber mit dem Curio-Haus an der Rothenbaumchaussee wählten die Parteiorganisatoren für die Regionalkonferenz ebenfalls einen historisch-korrekten Ort. In dem Gründerzeitbau, der von den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont blieb, fanden von 1946 an die ersten NS-Prozesse statt – noch vor britischen Militärgerichten.

Die Strategie, die Parteiseele anzusprechen, ging offensichtlich auch so auf. Beispiel doppelte Staatsbürgerschaft: Scholz widmete der Vereinbarung der Koalitionäre in spe, dass sich hier geborene Kinder ausländischer Eltern nicht mehr zwischen der deutschen Staatsbürgerschaft und der ihrer Eltern entscheiden müssen, breiten Raum in seiner Rede. Die Erleichterung der Integration sei besonders in Hamburg („wir sind eine kosmopolitische Stadt“) mit jahrhundertelanger Ein- und Zuwanderung von Bedeutung. Und der Bürgermeister erinnerte an die Einbürgerungsfeiern, an denen er schon „fast 20 mal“ teilgenommen habe – eben im Großen Festsaal des Rathauses.

„Das ist wirklich sehr berührend, jedes Mal wieder, wenn erst der Kinderchor singt, dann die Hamburger Hymne und die Nationalhymne folgt“, sagte Scholz ungewöhnlich emotional. Das war auch ein kaum getarntes Selbstlob: Die Feiern mit Teilnehmern aus bis zu 20 Nationen sind Folge der von Scholz gestarteten Einbürgerungskampagne. Allein in diesem Jahr nahmen 5700 in Hamburg lebende Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Parteivize Scholz sorgte auch gleich für die historische Überhöhung. Er stellte die Aufhebung des Optionszwangs – mutig genug – in eine Reihe mit der Erringung der allgemeinen Bürgerrechte – erreicht nicht zuletzt wiederum dank der SPD. „Das mit dem Frauenwahlrecht haben wir 1918 durchgesetzt, das waren wir auch“, so Scholz, der auch daran erinnerte, dass Hamburg bis zum Ersten Weltkrieg das „härteste Zensuswahlrecht“ in Deutschland hatte. Das ging zu Lasten der SPD, die damals nur auf wenige Bürgerschaftsabgeordnete kam, obwohl sie bei den Reichtagswahlen längst stärkste Partei war. „Wir Sozialdemokraten wissen genau, welche Bedeutung das Bürgerrecht hat“, rief der Bürgermeister im Curio-Haus. Wie gesagt, es wehte ein kräftiger Hauch Patriotismus, Parteistolz und Traditionsbewusstsein durch den Saal.

Und auch Parteichef Sigmar Gabriel spielte geschickt auf dieser Klaviatur. Alle, denen das im Koalitionsvertrag Erreichte zu wenig ist, verwies der SPD-Vorsitzende auf den langen Atem, den die Sozialdemokraten immer wieder bewiesen hätten, um ihre Ziele durchzusetzen. „Wir waren nie eine Partei, die alles oder nichts gespielt hat“, redete der Parteichef widerstrebenden Genossen ins Gewissen. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist noch nicht für alle seit Langem hier lebenden Ausländer Wirklichkeit, sondern nur für die nachwachsende Generation? Aber die Abschaffung des Optionszwangs ist ein „Tabubruch“, so Gabriel. „Das Tabu ist weg, der Rest wird kommen“, war sich der SPD-Chef sicher.

Die SPD hat in den Gesprächen mit der Union kein gerechteres Steuersystem erreicht, die kalte Progression nicht eindämmen können und auch die Bürgerversicherung nicht in den Koalitionsvertrag verhandeln können? Da holt Gabriel zur ganz großen historischen Kurve der Verteidigung aus: „150 Jahre SPD – das ist Fortschritt Schritt für Schritt!“ Und der Sozialdemokrat erinnerte an den beinahe unvermeidlichen Spruch des Nobelpreisträgers Günter Grass, der einmal schrieb, dass „der Fortschritt eine Schnecke“ sei. „Und Willy Brandt hat geantwortet: Ja, das stimmt, aber messen können ihn die Menschen doch“, setzte Gabriel hinzu. Das kam durchaus an.

Die Botschaft des Parteichefs an seine Basis lautete: Das wenige ist auch schon ganz schön viel. Und um zu beweisen, wie wichtig die von der SPD durchgesetzten Punkte des Koalitionsvertrages sind, zitierte Gabriel aus dem Dankesbrief einer Frau, die die sogenannte Mütterrente erhalten und deren Mann die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren bekommen wird. „So können wir unseren Lebensabend gestalten“, steht in dem Brief der Frau an den SPD-Chef, für den das eine Steilvorlage fürs große Finale seiner Rede war. „Wollen wir es uns leisten, den Fortschritt für die kleinen Leute nicht hinzukriegen, weil er uns nicht groß genug ist?“, fragte Gabriel mehr rhetorisch und mit einem Schuss Demagogie.

Was folgte, war beinahe eine Art sozialdemokratisches Glaubensbekenntnis der Opferbereitschaft. „Wir sind seit 150 Jahren dafür da, dass wir es uns im Zweifel schwer machen, um es anderen leichter zu machen. Dafür gibt es Sozialdemokraten“, rief Gabriel in den Saal und erntete dafür stürmischen Beifall. Der Parteichef mochte den Nerv vieler Genossen getroffen haben, trotzdem gab es reichlich Kritik am Vertrag, wenn auch nur wenig völlig ablehnende Stimmen. Ob es reicht, wird man sehen.

Übrigens: Am Tag zuvor diskutierten die Delegierten des CDU-Landesparteitages ebenfalls den Koalitionsvertrag. Da ging es, verglichen mit den sozialdemokratischen Emotionen, nüchtern-hanseatisch zu.