Im November wird an der deutschen Küste und auf den Inseln der Toten gedacht, die hier unbekannt angeschwemmt und beerdigt wurden. Am St. Pauli Fischmarkt erinnert eine Skulptur an die auf See Gebliebenen

Ein „gesegneter Strand“, das war in den Vorstellungen früherer Generationen ein Küstenabschnitt, der reiche Ernte einbrachte. Eine Ernte in Form von Strandgut, angespülten Waren aus gescheiterten Schiffen. Nach alten Überlieferungen beteten Pastoren sonntags sogar gemeinsam mit ihren Gemeinden um einen solchen Segen.

Hin und wieder trieben zwischen dem Strandgut allerdings auch die Leichen ertrunkener Seeleute an die Küsten. Als aufrechte Christenmenschen sorgten die Küstenbewohner für deren Begräbnisse. Zwar nicht auf dem örtlichen Kirchhof, man wusste schließlich nicht, ob es sich bei den Unbekannten überhaupt um Christen gehandelt hatte. Sondern meist an einem besonderen Ort irgendwo in den Dünen. Dem Friedhof der Namenlosen.

Der Antrieb für dieses Handeln war sicherlich Mitgefühl mit den Toten, von denen man in den meisten Fällen annahm, es seien verunglückte Seeleute. Wie sich Angehörige fühlten, wenn einer der Ihren von einer Seereise nicht zurückgekehrt und sein Schicksal unbekannt war, das hatten die Küstenbewohner nur zu oft selbst erlebt. Die Nachricht, ein Familienvater sei auf See geblieben, war in jenen Zeiten nicht selten, auch die Menschen an der Küste mussten immer wieder mit der traurigen Gewissheit leben, ihren Ernährer verloren zu haben.

Arbeit auf See war und ist lebensgefährlich. Fast immer aber löste eine solche Nachricht in jener Zeit eine Katastrophe aus. Ehefrauen von Seeleuten waren es zwar gewohnt, alle Angelegenheiten der Familie selbst zu regeln. Doch wenn das Einkommen des Ernährers ausfiel, waren sie auf fremde Hilfe angewiesen. Diese leisteten oft Schiffergesellschaften, zu denen sich Seeleute zusammengeschlossen hatten und in deren Kassen sie Beiträge für Notlagen einzahlten.

Wenn ein Mann auf See blieb, sein Schicksal aber ungewiss war, kam für die Hinterbliebenen zur finanziellen auch noch die seelische Not. Es konnte keine Trauer beginnen, es gab kein Grab, das man besuchen konnte, und es blieb die oft jahrelang immer noch alle Angehörigen zermürbende Hoffnung auf ein Lebenszeichen. Irgendwann gab es nur noch die Hoffnung, jemand in der Fremde möge sich des Toten erbarmt und ihn christlich begraben haben. Deshalb trugen Seeleute oft einen goldenen Ring im Ohr. Er sollte jenen entschädigen oder belohnen, der sie fand und anständig unter die Erde brachte.

Welche seelischen Nöte Angehörige mit der Ungewissheit litten, erzählt eine alte Geschichte von den Nordfriesischen Inseln. Im Herbst, als alle Schiffe vor der Winterpause heimgekehrt waren, vermisste eine junge Frau noch immer ihren Liebsten. Ständig, so geht die Sage, hätte sie nachts am Ufer gesessen, geweint und nach ihm gerufen. Eines Nachts sei dann ein schemenhaftes Schiff erschienen, mit Umrissen, wie jenes, auf dem der Mann verschwunden war. Es hätte die Frau an Bord genommen, und niemand hätte sie jemals wiedergesehen. Vielleicht war es eine Geschichte, die alle Anwohner beruhigen sollte, weil die Frau in ihrer Verzweiflung freiwillig ihren Tod im kalten Wasser gesucht hatte.

Es gibt die Küste rauf und runter viele Geschichten rund um verschollene Seeleute. Mal sind sie zur Geisterstunde ihren Angehörigen erschienen, die am nächsten Morgen, wenn sie glaubten, nur einen bösen Traum gehabt zu haben, zu ihrem Erschrecken eine nasse Stelle an derjenigen Stelle des Fußbodens fanden, an der die Gestalt gestanden hatte.

Es gab Überlieferungen von abergläubischen Ritualen, die Hinterbliebene ausführen sollten, um zu erfahren, was aus ihren Liebsten geworden war, ebenso wie Erzählungen, dass aufgezogene Uhren plötzlich stehen geblieben oder Bilder von der Wand gefallen waren. Später erfuhren die Familien dann, dass dies der Todeszeitpunkt des Verwandten auf See gewesen ist.

Anständige Seeleute erschlugen niemals einen Seehund, denn ein alter Glaube berichtete, in diesen Tieren lebten die Seelen ertrunkener Seeleute. In anderen Regionen glaubte man, sie seien nun in den Körpern von Möwen oder Albatrossen.

Es gibt Familiengräber an der Küste, auf denen Gedenksteine für Seeleute stehen, die niemals wieder nach Hause zurückgekehrt sind, auch nicht als Tote. Auf denen findet sich zwar ein Name, auch ein Geburtsdatum, aber nur ein vermutetes Todesdatum. Die Nachfahren haben es errichtet, um einen Ort des Gedenkens und der Trauer zu finden. In diesem Geiste errichteten Küstenbewohner auch die Friedhöfe der Namenlosen. Ihnen selbst war es ja auch wichtig, ein anständiges Begräbnis zu erhalten. Ein alter Spruch bringt es auf den Punkt: „Glücklich ist der Seemann, der an Land stirbt.“

Der älteste dieser Friedhöfe wurde bereits 1319 erwähnt. Ein solcher existiert auch noch heute auf der Insel Neuwerk in der Elbmündung. Es ist eine gepflegte Anlage mit schlichten Holzkreuzen ohne Aufschriften, die unter Lindenbäumen stehen. Wie unvergessen die unbekannten Toten trotzdem sind, zeigt, dass dort hin und wieder ein frischer Blumenstrauß liegt. Mitgefühl mit den namenlosen Toten bringt auch eine Zeile aus dem Lukasevangelium zum Ausdruck, die gern für Inschriften auf großen Gedenksteinen dieser Friedhöfe verwendet wird: „Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind!“

Viele Jahre wurden angeschwemmte Wasserleichen aus der Elbmündung auf der unbewohnten Vogelschutzinsel Trischen bestattet. Einige der dort Beerdigten hatte der Fischer Emil Karstens aus dem Kaiser-Wilhelm-Koog im Fanggeschirr seines Kutters „Annemarie II“ gefunden. Er erhielt für seine Bergungen das Bundesverdienstkreuz.

Auf der Düne vor der Insel Helgoland weist ein Schild auf den Friedhof der Namenlosen hin. Es ist nicht nur eine Gedenkstätte für unbekannte Opfer der See, sondern auch für die Besatzung des Seenotkreuzers „Adolph Bermpohl“, die im Februar 1967 während eines Rettungseinsatzes ums Leben kam. Gedacht wird auch derjenigen Meeresforscher der Biologischen Anstalt Helgoland, die bei Tauchgängen ihr Leben ließen.

Ein Stein erinnert an die Gefallenen des Seegefechts, das sich Preußen und Österreicher unter Admiral Wilhelm von Tegetthoff am 9. März 1864 gegen die Dänen lieferten. Dänemark verlor den Krieg; es war die letzte Seeschlacht mit Holzschiffen. Seither verlaufen die Grenzen des skandinavischen Landes nicht mehr entlang der Elbe.

Auch auf der Insel Amrum findet sich ein Friedhof der Namenlosen. Die meisten Gräber stammen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das letzte aus dem Jahr 1969. Denn heute können fast alle angespülten Ertrunkenen aufgrund besserer Ermittlungstechniken und besseren Informationsaustausches zwischen den zuständigen Behörden identifiziert werden. Der Amrumer Heimatlosen-Friedhof wird von der örtlichen evangelischen Kirche in Nebel gepflegt. Mittlerweile ist die letzte Ruhestätte für auf See Gebliebene ein Anziehungspunkt für Touristen.

„Heimat für Heimatlose. Offbg. 20,13. Das Meer gab die Toten, die darinnen waren. Errichtet 1895.“ So lautet die Inschrift eines Gedenksteins aus Granit auf der Insel Pellworm, auf einem weiteren Friedhof für die Opfer der See. 40 helle Grabplatten erinnern an die Toten.

Die Gedenkstätte auf der Insel Spiekeroog entwickelte sich nach 1854, als das Auswandererschiff „Johanne“ gestrandet war und 84 Menschen den Tod fanden und für sie ein Mahnmal errichtet wurde.

Erst in unseren Zeiten entstanden allgemeine Gedenkstätten für die auf See Gebliebenen. Eine wurde 1985 auf Betreiben Hamburger Cap Horniers am St. Pauli Fischmarkt errichtet. Die Bronzeskulptur des Bildhauers Manfred Sihle-Wissel zeigt eine hockende Frau, deren Blick elbabwärts in die Ferne schweift. Man spürt, wie sie auf etwas zu warten scheint. Auf dem Sockel in Form einer riesigen Welle stehen die Worte des Schriftstellers Joseph Conrad: „Der unvergänglichen See, den Schiffen, die nicht mehr sind, und den schlichten Männern, deren Tage nicht wiederkehren“.

Seit die Vereinigung der Cap Horniers sich aus Altersgründen aufgelöst hat, organisiert der Hamburger Hafenverein dort jedes Jahr am Totensonntag eine Gedenkfeier, an der sich mehrere Vereine beteiligen.