Das Nachtschattengewächs in Planten un Blomen trägt blutrote Früchte und krönte einst bei den Fidschi-Kannibalen den Verzehr der eigenen Spezies.

Neustadt. Als die stinkende Titanwurz erstmals wieder nach 84 Jahren in voller Blüte stand, lockte der weltweit größte Blütenstand im Juli Tausende von Besuchern ins Tropenhaus bei Planten un Blomen. Um das Naturschauspiel zu bewundern, konnte das Öffnen der Blüte sogar auf der Website des Botanischen Gartens verfolgt werden. Jetzt glänzt das Schaugewächshaus in der Nähe des Dammtorbahnhofs mit einer neuen botanischen Kuriosität: Wer die 20 bis 25 Grad warme Anlage betritt, stößt gleich auf der rechten Seite auf eine Pflanze mit blutroten Früchten und Furcht einflößendem Namen: Hier gedeiht die Menschenfressertomate, und zwar prächtig.

Anders als die sogenannten fleischfressenden Pflanzen, die auf den Verzehr von Insekten spezialisiert sind, ist die relativ kleine Menschenfressertomate (Solanum viride) nicht in der Lage, für den Menschen gefährlich zu werden. Dennoch bildete sie einst für die Kannibalen auf den Fidschi-Inseln den krönenden Abschluss für den Verzehr von Menschenfleisch, frisch vom heißen Stein. Was makaber klingt, hat der aus Hannover stammende Botaniker und Forschungsreisende Berthold Carl Seemann (1825 bis 1871) mit eigenen Augen bei seiner Expedition in den Pazifik gesehen. Auf ihn geht der Name für diese eindrucksvolle Tomate mit den bis zu drei Zentimeter großen Beerenfrüchten zurück. Nachdem Seemann zunächst das Arktische Meer erkundet hatte, nahm er 1860 Kurs auf die Fidschi-Inseln. Dort, nördlich von Neuseeland, ernährten sich damals noch immer einige Ureinwohner bevorzugt von Menschenfleisch, das sie in ihrer Landessprache Bokola nannten.

Doch der Verzehr der eigenen Spezies, berichteten die Kannibalen dem deutschen Forscher, stelle den Verdauungstrakt vor eine schwere Belastungsprobe – gäbe es nicht jenes Nachtschattengewächs, das stets in Pflückweite der Hütten angebaut wurde. Offenbar liegt menschliches Fleisch schwer im Magen und benötigt für die Verdauung gut zwei Tage. Um diesen Prozess zu beschleunigen, kultivierten die Fidschis die rund 1,50 Meter hohe, verdauungsfördernde Pflanze. Aus den ungekocht eher bitteren Früchten stellten sie Tomatensauce her. Derweil wurden die Blätter um das Fleisch gewickelt und – wie auch bei Schweinefleisch üblich – auf heißen Steinen gebacken. Völkerkundler beobachteten die Praxis, dass die Kannibalen der Fidschi-Inseln stets Holzgabeln verwendeten, um mit dem Menschenfleisch nicht per Hand in Berührung zu kommen. Sie glaubten, dass sonst Krankheiten bei Kindern hervorgerufen würden.

Eine Schautafel im 800 Quadratmeter großen und 13 Meter hohen Tropenhaus informiert ausführlich über die Kulturgeschichte der Menschenfressertomate. Und auf Internetforen tauschen sich Pflanzenfreunde über ihre Erfahrungen beim privaten Anbau aus. Ein Nutzer klagt zum Beispiel darüber, dass die starken Büsche von „lästigen Kartoffelkäfern“ heimgesucht werden. Die Soße sei absolut ungenießbar, meint er. Die Schaugewächshäuser von Planten un Blomen sind zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert. Wie Hans-Helmut Poppendieck vom Biozentrum Klein Flottbek sagt, sind sie nicht nur „von Glas umschlossene Räume zur Pflanzenkultur, sondern ein Kulturdenkmal ersten Ranges“. Jährlich wird die Anlage von rund 200.000 Gästen besucht. Der Eintritt ist frei.

Berthold Carl Seemann überstand seinen Aufenthalt auf den Fidschi-Insel übrigens unbeschadet. Er arbeitete zeitweise für den Botanischen Garten in Hannover sowie als Herausgeber internationaler botanischer Zeitschriften. Die Pflanzengattung der Seemannia (Gloxinia sylvatica) wurde nach ihm benannt. Seemann starb fern der Heimat als Direktor einer Goldminengesellschaft in Nicaragua.