„Hinz&Kunzt“ feiert 20. Geburtstag. Die Zeitung hat schon viele Obdachlose wieder aufgerichtet. 2012 wurden 767.808 Zeitungen verkauft. Damit ist es Deutschlands auflagenstärkstes Straßenmagazin.

Frank ist zwischen 50 und 70 und trägt sein graues Haar in einem Zopf. Mit dem Straßenmagazin zieht er durch die Kneipen am Hafenrand wie der geborene Verkäufer, freundlich grüßend, gut informiert. „Ich schreib ja auch selber, Gedichte und Aphorismen. Muss nur noch einen Verleger finden.“ Frank erzählt eine etwas verwickelte Geschichte von dieser Frau im Finanzamt, die auch „Hinz&Kunzt“ kauft und aufpasst, dass er nicht zu viel verdient. Oder auch endlich genug. Wenn man versucht, sich aus einer Notlage zu befreien und in der Welt der Behördenregeln zurechtzufinden, gibt es viele verwickelte Geschichten. Bloß haben die wenigsten Leute Lust, sie zu hören. Der Unterhaltungswert ist begrenzt, manche enden traurig. Andere enden aber auch bei „Hinz &Kunzt“.

Hamburgs Straßenmagazin blickt bei seinem 20-jährigen Bestehen auf Hunderte solcher Geschichten zurück, auf zwei Jahrzehnte Hamburger Sozialgeschichte – und eine besondere Mediengeschichte. Im Oktober 1989 hatte der Rockmusiker Hutchinson Persons in New York die erste moderne Straßenzeitung namens „Street News“ gegründet, zwei Jahre später folgte „The Big Issue“ in London. Die Grundidee: Der Verkauf sollte Menschen, die auf der Straße leben, eine Existenzsicherung ermöglichen. 1993 war es auch in Hamburg so weit. Am 6. November wurde die erste „Hinz&Kunzt“-Ausgabe auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz verkauft, 6000 Stück allein am ersten Nachmittag.

Wie es dazu kam, ist inzwischen schon eine Hamburger Legende. Wenn Stephan Reimers, damals Leiter des Diakonischen Werks, zu Fuß in sein Büro an der Esplanade ging, kam er über eine Brücke, an der Bettler saßen und ihn um „ne Mark“ baten. Er habe überlegt, ob man nicht mehr für sie tun könne, erzählt Reimers. Anfang der 1990er-Jahre, kurz nach der Wiedervereinigung, wuchs die Zahl der Wohnungslosen in Hamburg auf 7000. Auf so viele Menschen, die irgendwie durch das soziale Netz fielen, war die Stadt nicht vorbereitet. Es fehlten Wohnungen, Anlaufstellen und vor allem Leute, die sich die Geschichten anhörten und Hilfe anbieten konnten. 1993 las Reimers von „Big Issue“ und dachte: Kann man das nicht auch hier machen?

Zu der kleinen Gruppe von Journalisten und Wohnungslosen, mit denen er das Konzept entwickelte, gehörten auch die Redakteurin Birgit Müller und die Fotografin Frederika Hoffmann vom Hamburger Abendblatt. „Ich dachte zuerst, wir sollten nur ein paar Tipps geben“, sagt Birgit Müller. „Dann merkten wir, dass wir das Magazin ja selber schreiben mussten, und das ging nicht nebenher.“ Die Wohnungslosen seien zuerst misstrauisch gewesen: „Sie dachten, wir wären eine Art Drückerkolonne, die irgendwelche Armen nur braucht, um das Magazin zu vertreiben.“ Mittlerweile ist Müller seit 19 Jahren Chefredakteurin des Straßenmagazins. An die ersten bewegten Redaktionssitzungen erinnert sie sich gut. „Gerade von den Betroffenen kam die Bedingung: Bloß kein Jammerblatt!“ sagt sie. Es sollte eine „anständige“ Zeitung werden, eine, die den Menschen auf der Straße ihre Würde bewahrt, ohne die Probleme zu verschweigen. Lange wurde nach einem Titel gesucht. „Hans&Franz war in der Diskussion, dann sagte jemand: Warum nicht Hinz& Kunz? Und dann wurde das t drangehängt, weil wir von Anfang an einen Kulturschwerpunkt setzen wollten. Viele Verkäufer sind künstlerisch tätig. Kunzt ist ein Symbol für Lebensfreude und Zuversicht. Unsere Verkäufer sind Lebenskünztler.“

Von „Big Issue“ in London holte sich das Team Tipps für die Verkäuferregeln. Die gelten heute noch: Jeder Verkäufer kauft in Eigenverantwortung so viele Magazine an, wie er meint, absetzen zu können. Pro verkauftes Exemplar erhält er einen Euro, „Hinz& Kunzt“ 90 Cent. „Wir hatten große Angst, unsere 30.000 Exemplare Startauflage loszuwerden, aber die war nach zehn Tagen ausverkauft“, sagt Müller. „Das Magazin schlug ein wie eine Bombe, wir mussten nachdrucken.“

Im ersten Jahr wurden rund 300 Verkäuferausweise ausgestellt. Bedingung war und ist heute noch: kein Alkohol und keine Drogen am Arbeitsplatz. „Wir haben nicht verlangt, dass jemand sofort aus der jeweiligen Sucht aussteigt. Das wäre naiv gewesen“, sagt Birgit Müller. „Sie sollen nur beim Verkauf nicht betrunken oder weggetreten sein. Jeder Verkäufer muss sich so verhalten, dass er mit den Kunden in Kontakt treten kann, und er darf nicht betteln. Viele frühere Drogenabhängige haben uns erzählt, was für ein wundervolles Gefühl es war, wieder selbst Geld zu verdienen. Und etliche sagten: Ich steh’ mir doch nicht die Beine in den Bauch, um das Geld dann dem Dealer zu geben.“

Jürgen Jobsen war drogenabhängig geworden, nachdem sein kleiner Pflegedienst aufgelöst werden musste. „Ich bin abgesackt“, sagt er. Der Tiefpunkt kam, als er mit zwei Plastiktüten an der Straße stand und mit ansah, wie seine Wohnung geräumt wurde. Mitsamt seiner geliebten Plattensammlung. Noch heute fällt es ihm schwer auszudrücken, wie er sich da fühlte. Die ersten Nächte verbrachte er auf einer Bank im Bergedorfer Schlosspark, später lebte er fast ein Jahr lang in Hammerbrook am Kanal. „Ich hätte auch ganz den Halt verlieren können“, sagt er heute.

1998 gab ihm jemand einen Tipp: Geh doch zu „Hinz&Kunzt“. Das war ein Wendepunkt. Während seiner Heroin-Substitutionsbehandlung wurde er Verkäufer, baute sich in Winterhude eine kleine Tour durch Kneipen auf. „Dann fragten sie mich, ob ich bei ,Hinz&Kunzt‘ im Vertrieb mitarbeiten wollte. Ich hab gleich ja gesagt.“ Jetzt steht Jobsen hinterm Tresen der Geschäftsstelle, gibt Zeitungen und Verkäuferausweise aus, rechnet ab und verkauft Shirts und Hefte aus dem „Hinz&Kunzt“-Shop. Eine kleine Wohnung hat er auch. „Das Bedeutsamste ist hier die Einstellung der Mitarbeiter“, sagt er. „Die hat den größten Teil dazu beigetragen, dass mein Leben wieder schön geworden ist.“

Rund 644.000 Euro verdienen die 500 Verkäufer jährlich am Verkauf des Straßenmagazins. Das sind für jeden im Schnitt 1610 Euro im Jahr oder 134 Euro im Monat. Viele Verkäufer sind Hartz-IV-Empfänger. Bei mehr als 100 Euro Zuverdienst müssen sie das Sozialamt informieren und Formulare ausfüllen. Dabei hilft ihnen Stephan Karrenbauer, der 1995 als Sozialarbeiter bei „Hinz&Kunzt“ einstieg. Damals sammelten sich in Hamburg Obdachlose aus der früheren DDR und aus Polen, erinnert er sich, „in der City war so gut wie jeder Hauseingang abends besetzt“. Karrenbauer kennt nicht nur alle Verkäufer mit Namen. Er hilft, ihre verwickelten Geschichten quasi zu entwickeln. Er berät beim Finden einer Unterkunft, eines Therapie- oder Entzugplatzes, beim Beschaffen von Dokumenten.

„Der klassische Weg in die Obdachlosigkeit ist, dass jemand einen schweren Schicksalsschlag nicht bewältigt, also eine familiäre Trennung oder den Jobverlust“, sagt er. „Das ist heute immer noch so. Aber heute haben wir zusätzlich große Gruppen von Menschen, die aus Osteuropa kommen und vorher noch nie Obdachlose waren.“

Redakteure von „Hinz&Kunzt“ deckten Fälle auf, in denen Hamburger Vermieter aus der Not Kapital schlugen, den Betroffenen überteuert Keller vermieteten und die Jobcenter mit falsch berechneten Unterkünften abzockten. Trotzdem lebten allein um das Millerntor-Stadion 70 Polen auf der Straße. Anlass für „Hinz&Kunzt“, zum ersten Mal eine Anzahl nichtdeutscher Verkäufer aufzunehmen. Besonders umstritten war der Entschluss, im vergangenen Jahr auch 50 bulgarische und rumänische Verkäufer zu integrieren. „In ihrer Heimat haben sie als Traktoristen, Saisonarbeiter oder in Industriebetrieben gearbeitet und ihren Job verloren“, sagt Karrenbauer. „Sie sind nicht allein, sondern mit ihren Frauen hergekommen, manche sogar mit ihren Kindern. Hier leben sie vom Flaschensammeln und schicken den Familien noch Geld nach Hause. Als „Hinz&Kunzt“-Verkäufer sind sie unglaublich fleißig.“ Bei den angestammten Verkäufern löste das Konkurrenzangst aus. „Wir haben ein Jahr lang darüber diskutiert, die Sorgen waren ja verständlich“, sagt Birgit Müller. „Deshalb haben wir die Zahl auf 50 begrenzt. Aber hätten wir sagen sollen: Das Boot ist voll? Das wollten wir nicht.“

Inzwischen haben die meisten Hinz&Künztler die Zugewanderten ebenso akzeptiert wie die Käufer des Magazins. „Ich habe mir mal die Verkaufszahlen angesehen“, sagt „Hinz&Kunzt“-Geschäftsführer Jens Ade. „Kein einziger unserer ‚alten‘ Verkäufer hat wegen der Roma weniger verkauft oder seinen Stammplatz verloren. Im Gegenteil, für die Auflagenentwicklung waren die Neuen sehr gut.“ Nachdem die Auflage 2011 leicht gesunken war, legte das Magazin 2012 zu: 767.808 Zeitungen wurden verkauft (2011: 697.603), pro Monat im Schnitt 64.000 (Vorjahr: 58.130). Damit ist „Hinz&Kunzt“ Deutschlands auflagenstärkstes Straßenmagazin.

Für Jens Ade war der Wechsel zu „Hinz&Kunzt“ 2004 ein absolutes Kontrastprogramm. Der promovierte Betriebswirtschaftler hatte eine erfolgreiche Werber-Karriere in großen Agenturen hinter sich, soziale Themen hatten ihn immer interessiert. Den ersten Tag beim Straßenmagazin erlebte er als „kleinen Kulturschock“, sagt er und lacht. „Aber seither habe ich meine Entscheidung nie bereut. Wenn ich heute abends nach Hause gehe, weiß ich: Das war ein sinnvoller Tag. Das Gefühl hatte ich früher nicht jeden Tag.“

„Hinz&Kunzt“ ist ein Gesamtkunstwerk mit Redakteuren und Volontären, Vertriebs- und Sozialarbeitern, Anzeigen- und Marketingabteilung, Ehemaligen, Spendern und Gönnern. 46 Prozent der Jahreserlöse kommen aus dem Verkauf der Zeitung, die sich selbst trägt, 54 Prozent stammen aus Spenden und Sponsoring – eine gesunde Basis. Jens Ades Kontakte zu Unternehmen und Werbeagenturen helfen bei den vielen Kooperationen, die „Hinz&Kunzt“ immer wieder initiiert: Künstler stiften ihre Kunstwerke, Agenturen gestalten Plakate und Werbefilme, Prominente unterstützen Sonderprojekte. Die Koch-Hefte etwa, nach einer Idee von Birgit Müller mit Rezepten von Wohnungslosen zusammen mit bekannten Köchen, sind Renner geworden. Oder die Plakatkampagne zum 20. Geburtstag: Neben Starkoch Tim Mälzer, Mäzen Michael Otto und Moderatorin Judith Rakers habe spontan auch Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt mitgewirkt, sagt Ade.

Vielen Mitarbeitern und Ehemaligen geht es letztlich wie Birgit Müller, die sagt: „Ich habe mich in ,Hinz&Kunzt‘ verliebt.“ In jeder Liebe gibt es mal Enttäuschungen, Vertrauen erfordert Arbeit und Geduld. Unter den mehr als 6000 Verkäufern seit der Gründung war auch mal das eine oder andere schwarze Schaf, sagt sie. „Aber wenn ich mitkriege, wie viele trotz aller Niederlagen immer wieder aufstehen und die Hoffnung nicht aufgeben, dann werde ich ganz bescheiden.“

www.hinzundkunzt.de

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