Abendblatt-Redakteure stellen ihre Standpunkte zur aktuellen Flüchtlingspolitik in Hamburg dar.

Christian Unger:

Ja, die Gesetze. Dahinter kann man sich super verstecken. Sie stehen da, unverrückbar, übermächtig. So jedenfalls sehen es diejenigen, die in der Debatte um die sogenannten Lampedusa-Flüchtlinge auf rigides Durchsetzen dieser Gesetze pochen. Die „Asyl-Problematik“ löst das freilich nicht. Soll sie auch gar nicht: In Europa ist das Wort mit dem Gesetz vor allem die Sprache der Abschottung. Es ist die Rhetorik der Besitzstandswahrer. Nach dem Motto: „Wir wissen, es geht euch schlecht. Wir würden ja gerne...“ Aber da sind ja diese Gesetze.

Und so macht auch der Hamburger SPD-Senat einen grundsätzlichen Fehler: Er erklärt seit einem Jahr mit der Haltung eines Schatzmeisters, was alles rechtlich nicht geht, was illegal ist, wo keine Kompromisse möglich seien. Leider fragt der Senat viel zu wenig: Was ist möglich? Natürlich darf sich ein Staat nicht vorführen lassen. Er muss Herrscher über das Verfahren bleiben. Das ist der wahre Wert des Rechtsstaats. Doch er hat Spielraum – um ein Signal für mehr Menschlichkeit zu setzen, für ernst gemeinte Lehren aus den Lampedusa-Katastrophen. Und Hamburg hat eine Chance.

Zunächst zu den Spielräumen: Der Senat beruft sich darauf, dass die Lampedusa-Flüchtlinge in Italien zuerst die EU betraten, Italien also zuständig ist. Doch Artikel 3 der Dublin-II-Verordnung legt fest: Der Bund kann die Verfahren von Italien nach Deutschland ziehen. Und Paragraf 23 im Aufenthaltsgesetz gibt Hamburg die Möglichkeit mit Zustimmung des Bundes, Flüchtlingen aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Man muss es nur wollen. In Hamburg und Berlin. So haben 200 deutsche Gerichte in der Vergangenheit eine Abschiebung nach Italien gestoppt – es drohe „unmenschliche Behandlung“. Hamburgs Einlenken wäre alles andere als ein „Tabubruch“.

Zur Chance: Aus Afrika kommen nicht die Ärmsten nach Europa – die Reise organisieren und überstehen vor allem die Ehrgeizigen, die Cleveren und Mutigen. Vielleicht gibt es unter ihnen gute Handwerker, Pfleger, Köche oder gar Ingenieure. Das findet nur heraus, wer zuhört – statt mit Gesetzestexten zu belehren.

Klar, kaum einer beherrscht die deutsche Sprache, viele können nicht einmal schreiben. Und doch zeigt eine Studie des Bundes: Mehr als ein Viertel der Asylbewerber absolvierte in Deutschland ein Gymnasium. Hamburg hält mehr Flüchtlinge aus – das muss die menschliche Antwort auf die jüngsten Tragödien sein. Am Ende gewinnt Hamburg damit vielleicht sogar. Doch dafür muss der Senat Neues und auch Unbequemes wagen.

Matthias Iken:

Man muss die Menschen verstehen, die Afrika verlassen und ein besseres Leben in Europa suchen. Man muss dem Engagement der vielen Helfer für Flüchtlinge Respekt zollen. Und man muss, angesichts der verstörenden Bilder aus Lampedusa, grundsätzlich über die europäische Flüchtlingspolitik nachdenken und über die Verantwortung, die Staaten in Europa wie Afrika tragen.

Doch zunächst einmal muss man eines: den Rechtsstaat ernst nehmen. Den Rahmen für das europäische Asylrecht haben gewählte Regierungen gesetzt; das deutsche Asylrecht verlangt Einzelfallprüfungen. Man darf Gesetze für falsch halten und sie zu verändern suchen, doch zunächst muss man sich an sie halten. Genau das aber wollen die Lampedusa-Flüchtlinge aus der St.-Pauli-Kirche nicht – sie weigern sich, ihre Identität und Fluchtgeschichte preiszugeben, sie pochen auf eine Sonderbehandlung. Das mag individuell verständlich sein, der Staat aber kann und darf ein solches Verhalten nicht tolerieren. Auch die Kirche steht nicht über dem Gesetz. Und der politische Linksdrall einiger Unterstützergruppen sollte aufmerken lassen: Es ist unlauter, eine Flüchtlingsgruppe zu instrumentalisieren, um die „Festung Europa“ und die Asylpolitik in toto zu bekämpfen.

Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf, dass es einigen Aktivisten längst um offene Grenzen geht. Das würde auch erklären, warum eine Gruppe von Libyern unter dem Motto „Lampedusa in Hamburg“ die geballte Solidarität erfahren darf, während andere Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen ein anonymes Leben in Containern fristen müssen.

Hier offenbart die Debatte etwas Scheinheiliges. Und die moralgetränkten Forderungen bekommen eine seltsame Note. Wie kann man sich ernsthaft als Hamburger Politiker empören, dass die Polizei nach einem halben Jahr endlich nach der Identität der Flüchtlinge fragt? Und warum fordert ausgerechnet der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nun einen Kurswechsel in der Asylpolitik? Es ist doch gerade die groteske Landwirtschaftspolitik der EU, die Armut mitverursacht, ihre Zusammenarbeit mit Despoten, die das Fluchtproblem verschärfen. Und es sind wir Verbraucher, die Billigklamotten oder Discountkaffee kaufen, um ein paar Cent zu sparen.

Offene Grenzen werden diese Ungerechtigkeiten nicht beseitigen können – ganz im Gegenteil. Massive Einwanderung führt in Afrika wie in Europa zu Verwerfungen. Bei allem Beifall für Moralisten, es ist Aufgabe der Politik, hier ehrlich zu sein.