Ein 15-jähriger Hamburger wird während der Klassenfahrt von Rechtsradikalen zusammengeschlagen. Nach der Tat verbietet ihm seine Lehrerin, bei der Mutter anzurufen

Hamburg/Bad Schandau. Als seine Peiniger längst fort sind und Tim M. (Name geändert) realisiert, was da gerade passiert ist, sieht er sie wieder vor sich: hünenhafte Kerle mit „stahlblauen Augen, blonden Haaren und Springerstiefeln“. Drei Neonazis wie aus einem schlechten Film. Er erinnert sich, wie sie auf ihn einprügeln und wie einer der Männer beim letzten wuchtigen Schlag gegen seinen Kopf brüllt: „Damit du das nicht vergisst!“

Tim wird nichts vergessen, dafür haben die Schläger gesorgt. Sie haben seinen Kiefer gebrochen und seine Augenhöhle zertrümmert – vermutlich, weil sie fanden, dass der Junge deutsch-chinesischer Herkunft nicht aussah wie er aussehen sollte, blondhaarig und blauäugig. Bis gestern lag der schwer traumatisierte 15-Jährige auf der Kinderstation des UKE. Geschehen ist die Tat allerdings nicht in Hamburg – sondern in Bad Schandau in Sachsen.

Eigentlich zählt die Sächsische Schweiz mit ihren zerklüfteten Sandsteinfelsen zu den schönsten Urlaubsregionen Deutschlands. 87 Zehntklässler des Goethe-Gymnasiums in Lurup waren dorthin aufgebrochen, auch Tim M. Der Freitagabend in der vorvergangenen Woche ist der letzte Abend für die Hamburger Schüler in der Jugendherberge. Am nächsten Tag soll es zurück in den Norden gehen. Der Ort, in dem an jeder Ecke NPD-Plakate hängen, macht sich schick: Der Flecken Ostrau feiert 888-jähriges Bestehen. Erst gibt es einen Heimatabend mit Bildern, dann ein Orgelkonzert und als Krönung „musikalische Unterhaltung“ im Festzelt.

Die Party lockt auch mehrere Schüler des Goethe-Gymnasiums an. Sie verlassen die Jugendherberge, obwohl die Lehrer es strikt verboten haben. Als sie um drei Uhr über den Marktplatz laufen, stellen sich ihnen etwa zwölf betrunkene junge Männer in den Weg. Männer, die fremdenfeindliche Parolen skandieren. Die die Schüler durch die Straßen hetzen, bis sie die Jugendherberge erreichen. Drei Männer seien ihnen ins Gebäude gefolgt – so die Version eines Lehrers. Augenzeugen erzählen die Geschichte jedoch anders: Betrunkene Dorfjugendliche hätten einige Schülerinnen belästigt und dann gedroht: Man wisse, wo die Jugendherberge sei.

Tim M. hat sich an dem Ausflug ins Dorf nicht beteiligt. Er ist in der Nacht aufgewacht, weil er zur Toilette musste. Der 15-Jährige ähnelt seinem Vater, einem Chinesen. In den frühen Morgenstunden des 7. September wird das offenbar zum Problem.

Als er im Schlafanzug über den Flur im ersten Stock geht, hört Tim laute Geräusche. Er denkt noch: „Vielleicht sind das andere Herbergsgäste“, da wird er auch schon in den Toilettenraum gestoßen. Er sieht drei Männer, groß, blond, kräftig. „Wen haben wir denn da“, ruft einer und schubst ihn gegen das Pissoir. Dann schlagen sie auf ihn ein, Tim kauert sich in eine Ecke, krümmt sich zusammen, schützt seinen Kopf mit den Händen. Die drei Täter prügeln auf ihn ein, treffen ihn an Auge und Kiefer – bis sie irgendwann von ihm ablassen und flüchten. Doch die Männer kehren wieder zurück – mit weiteren Rechtsradikalen im Schlepptau, die vor dem Gebäude Parolen brüllen: „NSDAP – wir vergessen nie!“ Aus Angst, dass die Männer das Gebäude stürmen, stemmt sich eine Lehrerin gegen die Eingangstür. Die Schüler bekommen Schlüssel, damit sie sich in ihren Zimmern einsperren können. Es sind Szenen, die Tim „an einen Bürgerkrieg erinnern“. Wie sie mit ihren Stühlen die Türen verkeilen. Wie sie sich an „den Händen fassen und weinen“, während draußen die Rechtsradikalen immer lauter mit den Füßen stampfen.

Die Polizei soll erst eine halbe Stunde nach Beginn der Randale eingetroffen sein – dabei liegt die Wache gerade einmal drei Kilometer vom Tatort entfernt. Die Beamten nehmen neun Verdächtige fest. Tim weint nach der Tat, Blut läuft ihm über das Gesicht. Später, in einem Krankenhaus in Hamburg, werden die Ärzte einen gebrochenen Kiefer und eine gebrochene linke Augenhöhle feststellen.

Die in Sachsen konsultierte Ärztin, die vor der Vernehmung der Schüler durch örtliche Polizeibeamte den 15-Jährigen untersuchte, soll keine Verletzungen erkannt haben. In Hamburg wendet sich die Mutter von Tim an das Traumazentrum am UKE. In der Klinik wird er – Tage nach der Tat – erstmals geröntgt und unmittelbar daraufhin operiert. In seinem Kiefer steckt jetzt eine Titanplatte, das Auge ist mit einem sogenannten Patch stabilisiert. Tim spielt Geige und Tischtennis – an beides ist zurzeit nicht zu denken.

Wenn es stimmt, was Tims Mutter sagt, dann wiegen die Vorwürfe schwer. Ihr Sohn, sagt sie im Gespräch mit dem Abendblatt, habe nach der Tat nicht mit ihr telefonieren dürfen. Handys waren den Schülern auf der Reise nicht erlaubt. Das der zuständigen Lehrerin habe der 15-Jährige nicht benutzen dürfen. Erst zwei Stunden nach Abfahrt habe sie der Anruf eines Lehrers erreicht, der den Fall aus ihrer Sicht zu verharmlosen suchte. „Er meinte, mein Sohn sei in eine kleine Schlägerei geraten.“ Tim gegenüber sollen die Lehrer gesagt haben, er solle genau überlegen, was er bezüglich der Tat sagen werde.

Inzwischen hat die Mutter angekündigt, bei der Schulaufsicht Beschwerde gegen die Pädagogin einzulegen, die dem Jungen ihr Handy nicht geben wollte. „Ein Lehrer hat nach einer solchen Tat die Pflicht anzurufen – egal ob es vier oder fünf Uhr morgens ist“, sagt Cornelia M. (Name geändert). Wäre sie angerufen worden, hätte sie darauf bestanden, dass ihr Sohn noch in der Nacht in einem sächsischen Krankenhaus geröntgt wird.

Tim M. soll am Montag das Krankenhaus verlassen. Wie sich die Tat psychisch auf ihn auswirkt, ob Spätschäden durch die Augenverletzung drohen, ist nicht absehbar. Ihr Sohn gehe aber „sehr erwachsen und stark“ mit der Situation um, sagt die Mutter. Komplett von der Schule werde sie Tim mit Rücksicht auf seine Freunde nicht nehmen. Aber sie werde ihn wohl in die Parallelklasse versetzen lassen – schon allein, damit er der Lehrerin nicht ständig über den Weg läuft. „Sie ist ja Teil seines Traumas“, sagt sie.