Hartwig Stein forscht seit Jahren über die Schreberkultur. Er weiß: Immer mehr junge Familien pachten die grünen Parzellen. Anfänge der Hamburger Kleingärten gehen auf die Armengärten im 19. Jahrhundert zurück.

Hamburg. Gertrud ist schuld. Jedenfalls erzählt es Hartwig Stein, 63, aus Nienstedten so. Gertrud ist die verstorbene Großtante des Lehrers und promovierten Historikers Hartwig Stein. Sie war Pächterin eines Kleingartens in Winterhude, der aber längst nicht mehr existiert, weil dort inzwischen eine Straße entlangführt. Gertrud konnte prächtig über ihre Parzelle erzählen und die Laube, die das kleine Paradies schmückte. Und ihr Großneffe hörte interessiert zu.

All das brachte den Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule in Nienstedten eines Tages auf die Idee, sich näher mit dem deutschen Kleingartenwesen in Hamburg zu beschäftigen. Einen eigenen Kleingarten besaß der Pädagoge für Geschichte, Philosophie und Gemeinschaftskunde zwar nicht – aber das kaum zu bändigende Interesse, tiefer mit historischem Blickwinkel in die Materie einzudringen. Am Ende stand eine Doktorarbeit am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Die hochgelobte Dissertation kam 1998 auf den Buchmarkt – mit dem Titel „Inseln im Häusermeer. Eine Kulturgeschichte des deutschen Kleingartenwesens bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges“.

Seitdem hat sich das Leben des Familienvaters und Naturfreundes deutlich verändert. Häufig wird er als „Kleingartenpapst“ zu Kongressen und Vorträgen eingeladen – einen Anspruch auf Unfehlbarkeit hat er freilich nicht. Der nächste Auftritt findet am 29. August in Rahlstedt statt, wo er auf Einladung des Kulturwerks über die „Grünen Inseln“ referieren wird.

Vor allem aber kann er nicht mehr gänzlich unbeschwert durch die Schrebergärten streifen. „Mein Kopf ist voller Theorien“, sagt er, wenn er an den Parzellen mit Lauben, Hecken und Vereinshäusern vorbeiläuft. „Die schöne Naivität der unmittelbaren Anschauung ist durch die wissenschaftliche Beschäftigung verloren gegangen.“

Schließlich hat es Stein auf 700 Buchseiten gebracht – begonnen vom verlorenen Paradies in der Religion über den Kleingarten als Faktor der Ernährungswirtschaft während des Krieges bis in die Zeit nach 1945.

Die Anfänge der Hamburger Kleingärten gehen nach den Forschungen von Hartwig Stein übrigens nicht auf die Leipziger Schrebergärten zurück, sondern auf die Armengärten im 19. Jahrhundert. „Seit dem Jahr 1850 sind in der Hansestadt Kleingärten nachweisbar“, sagt Stein. Kurz nach dem Napoleonischen Krieg entschied sich Schleswig-Holstein, der grassierenden Armut mit der Verteilung von kleinen Flächen für den Anbau von Gemüse zu begegnen. Diese Initiative habe auf Hamburg ausgestrahlt, sagt Stein. Spuren dieser alten Parzellen sind nicht mehr erhalten geblieben. Wo die Wiege der Hamburger Kleingärten stand, befinden sich heute Teile der Speicherstadt und das Millerntor. So schnell verschwinden die kleinen Paradiese im Häusermeer.

Umso erstaunlicher findet Hartwig Stein, dass sich inzwischen immer mehr junge Familien für diese Sparte der aktiven Freizeitgestaltung interessieren. Und dass es noch immer viele Residenten in den Kleingartenanlagen gibt. „Ich schätze, dass es in Hamburg rund 1000 Dauerbewohner gibt“, sagt er.

In Hamburg gibt es 33.500 Parzellen und 321 Kleingartenvereine

Während es laut Kleingartengesetz nicht erlaubt ist, dauerhaft in einer Kleingarten-Laube zu wohnen, gilt für bestimmte Pächter eine Ausnahme. Seit der Zeit des Zweiten Weltkrieges und den sozialen Verwerfungen in der Nachkriegszeit ist es ihnen erlaubt, dauerhaft im Kleingarten zu wohnen. Viele Behausungen sind, um Wind und Wetter zu trotzen, aus Stein gebaut und verfügen über Kohleheizung und Kamin.

Auch überrascht ihn, dass es seit der Jahrtausendwende immer mehr jüngere Leute in die Kleingärten zieht. „Damals fing es an, dass Schrebergärten auch bei Akademikern und jungen Familien hipp wurden.“ Mit der Folge, dass das Durchschnittsalter der Nutzer nunmehr auf rund 60 Jahre gesunken ist. Nach Angaben des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung gingen in der Zeit von 2003 bis 2008 rund 45 Prozent der Neuverpachtungen an Familien; 64 Prozent aller Pächter, die seit der Jahrtausendwende einen Garten übernommen haben, sind jünger als 55 Jahre. Nach Angaben des Landesbundes der Gartenfreunde in Hamburg gibt es in der Hansestadt 33.500 Parzellen auf einer Gesamtfläche von 14 Millionen Quadratmetern. 43.000 Kleingärtner sind in den 321 Vereinen organisiert – darunter zunehmend jüngere Menschen.

Damit setzt auch ein funktionaler Wandel in der deutschen Kleingartenkultur ein. Zwar sind sie nach Ansicht von Hartwig Stein noch immer das „grüne Zimmer für den Mieter in einer Geschosswohnung“. Sie dienen aber nicht mehr – wie in früheren Zeiten – vorrangig der relativ preisgünstigen Ernährung mit Obst und Gemüse.

„Die kleingärtnerischen Vereine erbringen vor allem für die seelische Stabilität des Menschen eine große Leistung.“ Und sie vermitteln unter kostengünstigen Bedingungen gerade jungen Familien in einem urbanen Kontext den direkten, unmittelbaren Kontakt zur Natur. „Der Kleingarten konserviert mitten in der Stadt den alten, zyklischen Lebenslauf des Bauern in einer miniatürlichen Form, versteht sich.“

Dass die Hecken vorschriftsmäßig geschnitten sein müssen, regelmäßig in der Koppel Gemeinschaftsarbeit geleistet werden muss – das akzeptieren die Jung-Pächter gern für den Zugewinn an natürlicher Freiheit.

Allerdings, fügt Stein hinzu, werde in den Vereinen zu viel geregelt. „Ich plädiere eher für mehr Wildwuchs, Grabelandflächen und laubenkoloniales Durcheinander.

Der nächste Vortrag von Hartwig Stein findet am 29. August, 20 Uhr, im Rahlstedt-Center statt. Der Eintritt ist kostenlos.