Rückstände von Pillen stören das Ökosystem der Alster und ihrer Zuflüsse

Arzneimittel lindern Schmerzen, senken den Cholesterinspiegel, fördern die Libido, normalisieren den Blutdruck und helfen, schneller zu schlummern. Sie sind eine Errungenschaft der modernen Medizingesellschaft. Gut 31.000 Tonnen Pillen und Präparate konsumieren die Deutschen pro Jahr – Tendenz steigend. Die rund 2800 in Deutschland zugelassenen Medikamentenwirkstoffe retten Leben, heilen Wunden und töten Bakterien. Es ist ein Segen für die Menschheit, dass es sie gibt.

Die andere Seite: Rund 70 bis 80 Prozent der Wirkstoffe, so eine grobe Schätzung, nimmt der menschliche Körper gar nicht auf. Sie gelangen durch die Ausscheidungen in die Toilette, werden ins Abwasser gespült, nicht immer in den Kläranlagen gefiltert und gelangen so wieder in den Kreislauf des Wassers.

Die Folgen für die Umwelt, insbesondere für den Menschen, sind noch ungenügend erforscht. Gerade deshalb sollten uns die jetzt behördlich vorgelegten Daten über die erhöhten Konzentrationen von Medikamenten-Rückständen rund um die Alster zu denken geben. Sie dokumentieren, dass die gesundheitsfixierte Pillen-Gesellschaft mit ihrem häufig bedenkenlosen Konsum zumindest ökologisch an ihre Grenzen gerät. Dass eine Trendwende im Verbrauch einsetzt, dürfte – demografisch betrachtet – nicht zu erwarten sein. Denn die Gesellschaft wird im Durchschnitt immer älter. Und damit wird der Verbrauch weiter zunehmen. Allein von 2002 bis 2009 stieg die in Deutschland verwendete Arzneimittelmenge um rund 28 Prozent. Vielleicht sind die veröffentlichten Gewässerdaten aber ein Impuls dafür, grundsätzlich über den verantwortungsvollen Umgang mit Arzneimitteln nachzudenken. Es muss nicht immer gleich ein Antidepressivum sein, wenn dunkle Wolken am seelischen Horizont aufziehen. Manchmal hilft es schon, um die Alster zu joggen. Und es muss nicht immer gleich ein Fettsenker sein. Manchmal genügt es, auf Pommes und Burger zu verzichten und sich stattdessen mediterran zu ernähren. All das verlangt im Arzt-Patienten-Gespräch allerdings mehr Zeit für Lebensstil-Analyse und Beratung – ein Rezept ist da schneller ausgestellt.

Eine weitere Ursache für den Medikamenten-Cocktail ist die unsachgemäße Entsorgung via Toilette und Abwasser. Nach einer repräsentativen Untersuchung des Entsorgungsverhaltens in Deutschland durch das „Start Project“ (Strategien zum Umgang mit Arzneimittelwirkstoffen im Trinkwasser) kippen 43 Prozent der Befragten zumindest gelegentlich ihre flüssigen Arzneimittel in die Toilette; bei den Pillen sind es 16 Prozent.

Das Umweltbundesamt empfiehlt ausdrücklich, unverbrauchte Medikamente über Apotheken und Schadstoffsammelstellen zu entsorgen. Doch leider gibt es in Deutschland noch immer kein einheitliches Rücknahmesystem. Ob die Hamburger Variante, Pillen und Präparate im Hausmüll (graue Restmülltonne) zu entsorgen, der Weisheit letzter Schluss ist, darf bezweifelt werden. Der Weg zum nächsten Recyclinghof ist stets die bessere Variante, nicht zuletzt deshalb, um Kinder vor einem möglichen Zugriff zu schützen. Vielleicht gelingt es der Politik eines Tages, ein bundesweit flächendeckendes, apothekenbasiertes Rücknahmesystem zu etablieren.

Bis dahin werden wohl noch viele Tonnen von chemischen Wirkstoffen in Alster und Elbe fließen und subtile Ökosysteme stören. Weil über die Auswirkungen solcher Einträge wenig bekannt ist, müssen dringend weitere Forschungen erfolgen. Sonst braucht die Medizin-Gesellschaft schon die nächste Beruhigungspille.