Das Viertel ist schick und angesagt, zum Leben und auf dem Immobilienmarkt. Was das im wahren Leben bedeuten kann, hat die Hamburger Romanautorin Silke Schütze hautnah erlebt – und aufgeschrieben.

Sie kamen zu fünft. Unser Vermieter, sein Sohn, dessen Freundin, die vom Vermieter berufene Hausverwalterin und deren Praktikantin. Eine Viertelstunde vor ihrem Eintreffen wurden wir telefonisch davon unterrichtet, wie viele sie sein würden.

Für den Vermieter war es das erste Mal, dass er die Wohnung sah. Ihm gehört das Haus seit 14 Jahren. Für uns war es das erste Mal, dass wir den Vermieter sahen. Wir wohnen seit mehr als 23 Jahren in der Wohnung.

Jetzt soll der Sohn des Vermieters hier wohnen. Der Vermieter hat noch andere Wohnungen im Haus und Gerüchten zufolge besitzt er viele weitere im Stadtgebiet. Aber es soll unsere sein. Wir sind gekündigt, wegen Eigenbedarfs – im angesagtesten Viertel der Stadt.

Eigenbedarf, das haben wir mittlerweile gelernt, ist eine Naturgewalt. Der Eigentümer kann bestimmen, wo, und kann bestimmen, wann. Ob man fünf, zehn oder 20 Jahre in der Wohnung lebt, hat nur Auswirkungen auf die Kündigungsfrist. Bei mehr als zehn Jahren ist sie zwölf Monate lang.

Und jetzt waren sie da, wie ein Überfallkommando. Sie trabten durch unser Wohnzimmer, vorbei an den Spuren unseres Lebens, als wären wir überhaupt nicht da. Sie schämten sich nicht wegen ihres Eindringens, steckten ihre Köpfe in die alte Speisekammer, spazierten frech in unser Schlafzimmer, registrierten das zerschrammte Waschbecken von 1913, warfen sich Blicke über unsere Köpfe hinweg zu. Wir fühlten uns, als müssten wir uns vor Fremden ausziehen: bloß, nackt, gedemütigt. Sie haben Geld oder Eltern mit Geld. Wir haben genug, um Miete zu zahlen, zu wenig um Eigentum zu kaufen. Wir glaubten nicht an Eigentum, wir wollten mit allen die Welt teilen.

Über die Jahre wurde diese Gegend, in der 1989 kaum jemand leben wollte, unsere Heimat. Wir mochten die alten Häuser, die schmuddelige Patina von Generationen und das Flair des Zufälligen. Wir haben unseren Kindern beigebracht, nicht mit dem Spritzbesteck der Junkies zu spielen, und Hundehaufen auszuweichen.

Wir waren nicht schick, wir lebten mit fünf Nationen unter einem Dach, die Kinder auf dem Spielplatz hießen Özge, Jenny, Emiliano, Cem und David. Jetzt ist „die Schanze“ Boomtown, unser Haus wurde von einem Rechtsanwalt gekauft – und sein Sohn, der ebenfalls Jura studiert, bekommt unsere Wohnung.

Es gibt keine Spritzbestecke mehr auf den Spielplätzen (was natürlich schön ist), hinter jedem Hund läuft ein Mensch mit einer Plastiktüte, um die Hinterlassenschaft seines Tieres zu entsorgen (auch schön), und die Lokale machen neuerdings schon vor 24 Uhr dicht, weil die vielen jungen Väter morgens früh rausmüssen.

Wo es geht, werden die alten Häuser abgerissen, in die neuen kommen Einbauküchen, die so einfallslos wirken wie auf einer Musterküchenausstellung, und unsere gemütlichen kleinen Sträßchen werden mit Geländewagen verstopft, deren Besitzer ganz fest vorhaben, wirklich irgendwann mal ins Gelände oder wenigstens häufiger zum Biomarkt zu fahren. Wir suchen seit Monaten eine Wohnung, haben wohl schon alles gesehen, was es auf dem Markt gibt, und immer wieder festgestellt: So viel können wir monatlich einfach nicht aufbringen, um unser Klavier irgendwo hinzustellen. Wir müssen auch essen, versichert sein, die Ausbildung der Kinder bezahlen. „Skandalös“, findet Wahlkämpfer Peer Steinbrück, dass die Mieten „um 20 bis 30 Prozent“ gestiegen sind.

Im statistischen Durchschnitt mag das zutreffen. Für uns bedeuten Quadratmeterpreise von 15 Euro eine Erhöhung um hundert Prozent.

Was mich am meisten erschreckt hat, waren die Gesichter des Eigentümersohns und seiner Freundin, die uns so kalt musterten als wären wir Avatare. Sie werden aus unserem Zuhause mit dem ewig knarzenden Parkett und dem alten, kleinen Waschbecken, der schiefen Speisekammertür und dem schäbigen Charme eine Wohnung wie aus dem Prospekt machen.

Sie werden dieses Viertel in eine gesichtslose Dependance einer deutschen Mittelstadt verwandeln, mit den immer gleichen Läden und Ketten. Sie werden wie geklont durch die sauberen, immer einförmigeren Straßen laufen.

Vermutlich werden sie irgendwann das Gefühl haben, dass das wahre Leben woanders tobt. Nämlich dort, wo wir mit unseren Freunden sind. Den Autoren und Musikern, den Durchschnittsverdienern und Migranten, den Alten und Obdachlosen, den Dichtern und Spinnern. Wo das ist? Dort, wo demnächst die Preise steigen.

Die bisher erschienenen fünf Romane der Hamburger Autorin Silke Schütze spielen in Eimsbüttel. Der nächste nicht mehr.