Vermisste Kinder, verschwundene Tickets, Männer, die auf Handys starren, und Paare, die via Weizenbier kommunizieren – eine Geschichte über die kleinen Dramen vor dem Abflug.

Als Kind wollte ich immer „irgendwas mit Flughafen“ werden. Jetzt mach ich „irgendwas mit Medien“. Heute mache ich mal beides. Es ist ein absurd heißer Sommertag (für Hamburger Verhältnisse) und ich sitze am Gate A34. Ziel: Barcelona. Bis zum Boarding sind es noch 65 Minuten.

Ich kann noch immer gut verstehen, warum ich hier mal mein Geld verdienen wollte. Womit? Ziemlich egal. Am Airport, hinter den Sicherheitskontrollen, öffnet sich eine andere Welt. Die heißt für die meisten hier: Urlaub. Hamburg? Ganz weit weg. Auf den Anzeigetafeln blinken viel spannendere Namen: Lissabon, Istanbul, Paris. Am Flughafen guckt man nach vorne und in die Ferne. Einkaufen, Büro, Wasserhahn tropft? Hier ist Schluss mit Alltag.

An meinem Gate sitzen bisher nur einige Männer in Anzügen neben mir an Stehtischen und trinken Kaffee. Doch sie sehen nicht aus, als würden sie sich auf eine Auszeit freuen. Die meisten starren auf ihr Smartphone. Auf Reiseseiten surfen sie wohl nicht. Nur einer guckt nicht auf seinen Bildschirm. Er telefoniert. Legt auf. Wieder klingelt es. Wieder geht er ran. Wichtige Dinge, die er da bespricht. Das können wir alle sehr gut hören. Erleichterung macht sich breit, als er sich mit seinem Rollkoffer, einer Art Aktentasche auf Rädern, in Bewegung setzt. Nein, auch er wird wohl keinen Urlaub machen. Dabei würde ihm vielleicht etwas Erholung guttun. Soll ich es ihm sagen?

Aber mal eine andere Frage: Was machen die ganzen Business-Menschen eigentlich schon alle hier? Ich dachte immer, dass diese Profiflieger und Meilensammler total lässig auf den letzten Drücker kommen, weil sie sich auf dem Airport besser auskennen als in ihrer eigenen Wohnung.

Hattest du nicht die Tickets eingesteckt?“

Bevor ich eine Antwort finde, wird es neben mir laut. Urlauber. Endlich. Eine Familie baut sich mit Bergen von Taschen neben mir auf. Mutter, Vater, drei Kinder. „Schatz, hast du die Tickets?“ Er guckt irritiert. „Hattest du sie nicht eingesteckt?“ Er wühlt in einer Tasche. Öffnet eine andere Tasche. Dann findet Jan, so heißt Schatzi offenbar, die Tickets. Mama Sabine ist erleichtert. „Was hätten wir bloß gemacht, wenn wir sie verloren hätten? Da hätte man ja ...“, setzt sie an. Er verdreht die Augen. „Ja, da hätte man ja ... Wir haben die Tickets jetzt. Also entspann dich.“

Neulich habe ich in irgendeiner Frauenzeitschrift gelesen, dass sich die meisten Paare entweder an Feiertagen oder im Urlaub trennen. Weil man oft erst an der Strandbar bemerke, dass man sich eigentlich nichts mehr zu sagen habe. Wenn einer zum anderen nach zwei Stunden Schweigen sagt: Hat es dir geschmeckt?

Ich hoffe, dass das Pärchen, das sich inzwischen auf die Wartebank gesetzt hat, den Artikel nicht gelesen hat. Die beiden brauchen keine Strandbar zum Schweigen. Sie kommunizieren ausschließlich über das Weizenbier, das er in der Hand hält. Immer wenn er einen Schluck nimmt, verfolgt sie das mit ihren Augen. Es sieht aus, als ob ihre Lippen ein „Es ist noch nicht einmal vier Uhr“ formen wollen. Das passiert aber nicht. Ob das Reiseziel Barcelona nur ein Kompromiss war? Das wird es sein. Sie wollte „Wandern auf La Gomera“ – er wollte lieber mal nach Lloret de Mar, weil: „Das muss man ja mal gesehen haben.“ Und jetzt trinkt er Bier vorm Abflug. Promille-Protest gegen den Kultur-Urlaub. Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Geht mich ja nichts an.

Ein Blick auf die Uhr: noch 20 Minuten bis zum Boarding. Langsam füllen sich die Reihen mit Menschen. Leute, so unterschiedlich wie morgens im U-Bahn-Abteil auf dem Weg in die Stadt: alt, jung, aufgebrezelt, lässig. Mit Aktentasche, Rucksack, Seglerhose. Leseratte, Familienbande. Ein lustiger Querschnitt. Und genau wie in der U-Bahn bilden wir eine Fahrgemeinschaft. Man kann nicht anders, als die Leute zu mustern. Das machen alle. Allein schon, weil es einen interessiert, wer gleich neben einem sitzt. Mich auch. Wenn ich einen Wunsch frei hätte: Hauptsache, nicht der Typ dahinten. Den kenn ich schon von der Gepäckabgabe. Der ist mit seinen zwei Kindern unterwegs, denen er unentwegt „Euer-Papi-ist-der-Coolste“-Geschichten erzählt. Papi beim Segeln, beim Kicken, Papi beim Snowboardfahren. Könnte anstrengend werden. Andererseits: Jetzt holt er zwei iPads raus. Für jedes Kind eins. Jippie! Könnte doch ein ruhiger Flug werden.

Auf den Plätzen daneben tut sich jetzt etwas. Eine Gruppe junger Frauen trudelt ein. Flip, flop, flip, flop. Es riecht nach Sonnencreme. Gesprächsthema: das Wetter. „Heute Abend soll es in Hamburg wieder schlechter werden“, sagt die eine. „Und in Barcelona soll es richtig heiß werden“, die andere. So und nicht anders war es geplant. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist schließlich, dass man wegfliegt und dass das Wetter in Hamburg besser ist als am Flugziel. Per Handy liest eine der Frauen noch schnell die Wettervorhersage: „Ja, heute Abend gibt’s Gewitter, morgen wird es wieder kalt.“ High five! So schnell ist man auf der anderen Seite.

Plop. Dem Mann neben mir fallen die Zigaretten aus der Tasche. Mit Rauchen ist jetzt erst mal nichts. Nur in diesen Glas-Kabinen, die es auch am Hamburger Flughafen gibt, würde das gehen. Machen oder nicht? Da kann man sich gleich ein T-Shirt mit der Aufschrift „süchtig“ bedrucken lassen. Außerdem stinkt es da drin. So sehr, dass es selbst einen Raucher stört. Der Mann neben mir geht trotzdem los. Ich reiße mich zusammen. Süchtig sind die anderen.

Drei Meter weiter herrscht bei der Familie wieder Aufregung. Sie suchen schon wieder. Dieses Mal ein Kind. Timo, der Zweitjüngste, wollte bloß ein bisschen herumlaufen. Er sollte sich aber nur so weit entfernen, dass Mama und Papa ihn noch sehen können. Das war vor 20 Minuten. Nachdem das Ticket-Drama überstanden ist, droht jetzt der Urlaub ein zweites Mal zu platzen. Mama rennt auf und ab. Ruft seinen Namen. In diesem Moment kommt Timo ziemlich lässig um die Ecke geschlendert. Er ist in Begleitung. Sein neuer Freund: der Pilot. Also – ein echter. Mit Uniform und allem Drum und Dran. Das muss sich für den Jungen so anfühlen wie Weihnachten und Ostern zusammen. Jetzt will Mama nicht spießig sein. Aber trotzdem: Pilot hin oder her. Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Alle laufen noch einmal zur Toilette, denn gleich geht’s ja los.

„Über den Wolken ...“ – Mama singt ein Lied von Reinhard Mey

Tobi scheint es nicht so lustig zu finden, dass Mama jetzt das Fachgespräch mit dem Piloten sprengt. Er mault und quengelt. Mama versucht gute Stimmung zu machen und summt. Die Melodie kenne ich. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Dann singt sie auch noch.

Och, nö. Das ist wie neulich, als ein Fahrgast auf dem Flug nach Texas im Flieger „Houston, wir haben ein Problem“ gewitzelt hat. Was sind wohl die meistgesungenen Lieder auf Flughäfen? Außer Reinhard Meys „Über den Wolken“? „Leaving On A Jetplane“ von John Denver? „Flugzeuge im Bauch“? Da muss ich gleich nächste Woche mal beim Flughafen nachfragen. Vielleicht arbeiten die Airport-Mitarbeiter längst an einer Liste, wie es sie in dem Gitarrenladen im Bunker an der Feldstraße gibt. Eine Geht-gar-nicht-Liste. Im Gitarrenladen stehen Lieder auf der Liste wie „Knocking On Heaven’s Door“, „Stairway To Heaven“ und „Tears In Heaven“. Erst jetzt fällt mir auf, dass in allen drei Liedern das Wort „heaven“ vorkommt. Und dass es damit eine Schnittmenge zwischen beiden No-go-Listen geben muss ... Ich schweife ab.

Noch 15 Minuten. Die Frau neben mir (saß die schon die ganze Zeit da?) rührt gedankenverloren in ihrem Latte macchiato. Ihr Handy brummt. Sie lächelt sanft. Auch wenn das kitschig klingt: Genau so sieht es aus.

Die Frau (etwa Anfang 40) ist zwar hier und jetzt ohne Begleitung. Aber in wenigen Stunden wird das anders sein. Ganz sicher. Bestimmt ist sie eine von denen, auf die man ein bisschen neidisch ist, weil sie so nett am Flughafen empfangen werden. Sie tippt auf ihrem Handy herum. Jetzt kichert sie. Doch eine verrückte Idee, zu fliegen? Vielleicht kennt sie ihn noch nicht lange. Vielleicht wollte sie zunächst nicht. Bestimmt hat sie auch Woody Allens Film „Vicky Christina Barcelona“ geschaut. Und dann doch zugesagt. Richtig so.

Noch zehn Minuten bis zum Abflug. Die Ersten werden unruhig. Ich mache eine Wette mit mir selbst. Jan und Sabine springen garantiert in zwei bis drei Minuten auf und stellen sich als Erste an. Ich werde sie gewinnen. Oh, ja, das werde ich. Zweite Wette: Der Typ, der nur laut telefonieren kann, wird als Letzter den Flieger betreten. Wenn schon alle Taschen verstaut sind. Den Offline-Modus wird er erst im Flieger einschalten. Oder gar nicht. Dass Handy ausschalten ist eh schräg. Wenn es irgendeinen Zusammenhang zwischen Flugzeugabstürzen und Handysignalen gäbe, dann würde das Bordpersonal die Handys doch einfach einsammeln, statt höflich darum zu bitten, die Geräte auszustellen – oder nicht?

In zwei Minuten beginnt das Boarding. Plötzlich hab ich keine Lust mehr, zu fliegen. Aber darum geht es bei „irgendwas mit Flughafen“ auch gar nicht. Es geht darum, Leute zu beobachten, mir zu überlegen, wohin sie fliegen, woher sie kommen. Am Flughafen zu sein, das heißt zu träumen. Sehnsucht nach Ferne zu spüren, Sehnsucht nach anders, Sehnsucht nach weg. Das Boarding startet. Was hab ich gesagt: Die Familie ganz vorne. Gewonnen! Dafür gibt’s gleich ein Eis in Barcelona. Von da geht’s weiter nach Ibiza.

Was ich da mache? Ach, nur irgendwas mit Medien.

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