Sie sind Pioniere in einem weltweit einmaligen Quartier: die ersten Bewohner der Internationalen Bauausstellung in der neuen Wilhelmsburger Mitte. Das Abendblatt hat Bewohner der spannendsten Projekte besucht.

Hamburg. Sie haben Pioniergeist und genießen die Aufbruchstimmung im Stadtteil, an der sie wesentlichen Anteil haben: die Bewohner der neuen Wilhelmsburger Mitte. Ihre Häuser tragen Namen wie BIQ, Woodcube oder Smart ist Grün und sind Bestandteil der „Bauausstellung in der Bauausstellung“ – einem weltweit einzigartigen Quartier innovativer Gebäude, das schräg gegenüber dem S-Bahnhof Wilhelmsburg auf einer ehemaligen Brachfläche entstanden ist.

Für viele der IBA-Bewohner war es allerdings zweitrangig, in Häusern mit Algenfassade, herzfrequenzsenkenden Holzwänden oder einer Ladestation für Elektro-Autos vor der Tür zu wohnen. Sie haben günstigen Wohnraum gesucht und ihn hier gefunden, nur acht S-Bahn-Minuten von der Innenstadt entfernt, zur Miete oder als Eigentum. Dass immer wieder Besucher der Bauausstellung oder der Gartenschau vor ihrer Tür, in Haus oder Garten stehen, wird akzeptiert. „Die sind ja in ein paar Monaten wieder weg“, sagen die Neu-Wilhelmsburger. Sie sind stolz auf ihre modernen Behausungen und geben bereitwillig über deren Besonderheiten Auskunft. Das Abendblatt hat Bewohner der spannendsten Projekte besucht.

Wohnen im Wasser: „Wie im Urlaub“

Für Nina Pfeiffer, 25, und Lorenz Aschmis, 28, war schon 2010 klar, dass sie Neubürger von Wilhelmsburg werden würden. Damals waren sie im Internet auf eine Verkaufsofferte der WaterHouses gestoßen, die auf Pfählen in einem 4000 Quadratmeter großen Wasserbecken gebaut werden sollten – mit eigenem Bootssteg, Terrasse direkt am Wasser und einer Wohnfläche über drei Ebenen verteilt. „Wir waren sofort fasziniert, gingen aber davon aus, dass wir uns das nie im Leben leisten könnten“, erinnert sich das Paar. Doch ihr Traumdomizil war rund ein Drittel günstiger als das, was sich die Braunschweiger in Hamburg noch so angesehen hatten – und sie bewarben sich. Gerade noch rechtzeitig; die WaterHouses waren bereits einige Wochen später ausverkauft.

Die Finanzierung hätten sie „mithilfe der Schwiegereltern und einem günstigen KfW-Kredit“ bewältigt, sagt Lorenz Aschmis. Doch ohne seinen gut bezahlten Halbtagsjob als Forscher und Entwickler in der Automobilbranche wäre es eng geworden – denn noch studiert er Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Heimatstadt der beiden. Nina Pfeiffer hat ihr Studium in Hamburg gerade abgeschlossen und ist jetzt Illustratorin. Ihren Arbeitsplatz hat sie im hinteren Teil des Wohnzimmers eingerichtet, im „Wassergeschoss“, an das die 20 Quadratmeter große Terrasse angrenzt. „Es ist wie Urlaub, hier zu wohnen – so nah am Wasser, mit so viel Licht“, schwärmt sie. Im März sind sie eingezogen, bis vor Kurzem wurde gebaut. Klar, dass das Wohnen an einem solchen Standort bei einem IBA-Projekt auch der Nachhaltigkeit dienen muss: Heizung und Klimatisierung des Passivhauses funktionieren größtenteils durch die Verbindung mit Wasser. Ein im Eingangsbereich installiertes iPad erfasst, wann Nina Pfeiffer und Lorenz Aschmiss im Haus sind, hier können sie etwa Klimatisierung und Rollos programmieren und ihren Energieverbrauch mit den Nachbarn vergleichen.

Komfort hinter der Algenfassade

An das kräftige „Blubb“, mit dem die Luftblasen in die grüne Algenmasse gepumpt werden, haben sich Laura Rist, 31, und Fabian Gardor, 33, noch nicht so richtig gewöhnt. „Besonders nachts stört es uns noch“, sagen sie. Ansonsten fänden sie es sehr interessant, im weltweit einzigen Haus mit Bioreaktorfassade zu leben. Die Algen sind die primäre Energiequelle des Passivhauses. „Sie setzen durch Fotosynthese Methan frei, das in unsere Heizungsanlage eingespeist wird“, sagt Laura Rist. Das mache sich positiv bemerkbar; momentan zahlten sie fürs Heizen nur zehn Euro pro Monat. Zyklusgemäß färben sich die Algen in den Fassadenelementen von hellgrün bis schwarz-braun – das sei nicht immer ein schöner Anblick, ebenso wenig wie die grünen Außenwände das „BIQ“ genannte Gebäudes. „Dafür ist es innen um so schöner“, sagt Laura Rist. Besonders gut gefällt ihr der Grundriss der Wohnung und dass man den Balkon von Schlafzimmer und Wohnzimmer betreten kann. Mit ihrem zukünftigen Ehemann ist die im siebten Monat Schwangere am 3. Juni von Berlin nach Wilhelmsburg gezogen. Er hat in Hamburg die Niederlassung eines Berliner Unternehmens übernommen, sie hat in der Hauptstadt als Managerin in der Bio-Tech-Branche gearbeitet. Gewohnt haben sie dort in einer Altbauwohnung im Zentrum. Dass sie jetzt modern und im Randbezirk wohnen, empfinden sie als vorteilhaft. „Wir haben viel Grün vor Augen, sind verkehrstechnisch aber gut angebunden“, sagt Laura Rist, die von ihrer Terrasse direkt aufs Gartenschau-Gelände blickt. „Ist die igs zu Ende, haben wir einen Park direkt vor der Tür.“ Die Miete wäre mit 1300 Euro warm zwar recht hoch, aber: „200 Euro sind unser Bonus dafür“, sagt Laura Rist, „dass wir komfortabel und modern wohnen.“

Das Holzhaus ist gut fürs Herz

„Wir wollen in einer gesunden Wohnumgebung Wurzeln schlagen“, sagen Andreas Gagneur, 40, und Katrin Kindler, 38, die am 16. Juni mit ihrem kleinen Sohn nach Wilhelmsburg gezogen sind. Sie könnten ihm hier mehr bieten als auf der Veddel, wo sie zehn Jahre lang gewohnt haben. Als Betriebsingenieur hat Gagneur viel im Baugewerbe zu tun. Klar, dass er sich da zunächst mit allen neuen Häusern der IBA beschäftigt hat. Als er den „Woodcube“ kennengelernt habe, seien die anderen Häuser schnell aus dem Rennen gewesen, sagt Gagneur. Bis auf einen Betonkern, das Treppenhaus, besteht das Gebäude aus Vollholz. Trockenbauwände und Dämmmaterial sind so gut wie schadstofffrei, auf Materialien wie Leim, Plastik oder Styropor wurde verzichtet. „Der ökologische Aspekt ist nicht unwesentlich bei einer Lebensentscheidung wie dem Wohnungskauf“, sagt Gagneur. Die Holz-Umgebung senkt nachweislich die Herzfrequenz – die Auswirkungen hätten sie bereits nach ein paar Nächten festgestellt. „Der Schlaf ist viel erholsamer, morgens ist man früher munter“, so die Hausherren. Da sie in einem oberen Stockwerk leben, kann ihnen keiner der vielen IBA-Besucher in die Wohnung schauen, vor dem Haus aber werden sie oft von Neugierigen angesprochen. Lästig finden sie das nicht – im Gegenteil. „Ich bin stolz, einer der IBA-Pioniere zu sein und in einem besonderen Haus zu leben“, sagt Andreas Gagneur.

Die Baustelle, die Miete spart

Von außen wirkt der begrünte Balkon im vierten Stock des frisch verputzten, aber noch ungestrichenen Gebäudes wie eine hoch gelegene Oase. Er gehört zur Wohnung von Bettina Zädow und ihrem Mann Amine El-Aryf. Neben der Haustür lagert Baumaterial, das Treppenhaus gleicht einer Baustelle. Das ist gewollt, gehört sogar zum Konzept. „Grundbau und Siedler“ heißt das gerade mit dem universal design award ausgezeichnete Projekt, bei dem man durch Eigenleistung beim Ausbau Miete oder Kaufpreis reduzieren kann. „Wir haben die Wände gestrichen, den Fußboden verlegt, Fußleisten montiert und die Türen eingebaut – und müssen in den nächsten zwei Jahre jeden Monat 180 Euro weniger Miete zahlen“, sagt Bettina Zädow. Die 42-jährige Bauingenieurin ist mit ihrem Mann von Berlin nach Wilhelmsburg gezogen, weil sie einen Job in der Hansestadt angenommen hat. Von dem Projekt „Grundbau und Siedler“ hatte sie im Dezember erstmals gehört – und war schnell davon überzeugt. Am 11. Mai zog sie ein. Dass das Haus noch fast unbewohnt ist – bislang ist nur eine weitere Partei mit dem Wohnungsausbau fertig geworden –, stört sie nicht. „Ende des Monats wird es hier voller“, sagt sie. Sie fühlt sich wohl in der hellen Dreizimmerwohnung, aus deren Fenster sie über die Dächer der benachbarten IBA-Häuser und das Gartenschau-Gelände blickt. Wilhelmsburg gefällt ihr, die Vorurteile ihrer Kollegen gegenüber dem Stadtteil kann sie nicht nachvollziehen. „Das liegt nicht nur daran, dass ich als Berlinerin vieles gewohnt bin. Wilhelmsburg ist ein netter Stadtteil mit guter Infrastruktur, hier bekomme ich sogar Fleisch, das halal ist (nach islamischem Recht erlaubt, d. Red.).“

Grüner geht‘s nicht

Eigentlich hatten Ebru Monelletta, 34, und ihr Mann Luca, 37, nach einem Häuschen mit Garten für sich und ihre beiden Söhne gesucht. „Da wären wir aus Kostengründen aber zu weit außerhalb gelandet“, sagt das Paar, das bislang in Hamm wohnte. Seit dem 11. Mai leben sie im vierten Stock des Gebäudes „Smart ist Grün“. Die Fassade besteht teilweise aus mit Kletterhortensien bepflanzten Elementen, aber auch aus PCM (Phase Change Material – also Material, das seinen Aggregatzustand wechselt). Ähnlich wie bei einem Taschenwärmer wird die Wärme der Sonnenenergie aufgenommen und bei Bedarf wieder abgegeben. Das Haus kann mehr Energie erzeugen als verbraucht wird und in das Wilhelmsburger Nahwärmenetz einspeisen. Sowohl im Winter wie im Sommer können Temperaturspitzen so abgefangen werden. „Tatsächlich war es hier im Dachgeschoss an den heißen Tagen gut auszuhalten“, sagen die Monellettas. Sie fühlen sich wohl in ihrer neuen Heimat – eigentlich sind sie schon mit Leib und Seele Wilhelmsburger geworden. Enrico, 2, und Paolo, neun Monate, gehen demnächst in die benachbarte Kita. Außerdem haben sie, um ihrem ursprünglichen Traum so nah wie möglich zu kommen, auf dem Gartenschau-Gelände eine kleine Laube gekauft. „Wir müssen nur ein paar Schritte durch den Park gehen, dann sind wir da“, sagt Ebru Monelletta, die von ihrem Mann eine Jahreskarte geschenkt bekommen hat. Für Luca Monelletta, einen Maschinenbauingenieur, ist die gute Verkehrsanbindung wichtig. „Ich muss flexibel sein“, sagt er. Übertrieben energiebewusst seien sie aber nicht. „Wir achten auf Strom- und Wasserverbrauch“, sagt Ebru Monelletta. Ein Elektroauto oder ein E-Bike, für das es im Haus Ladestationen gibt, wollen sie sich aber noch nicht anschaffen.