Nach dem Tod der elfjährigen Chantal 2012 gelangte das Jugendamt Hamburg-Mitte in die Schlagzeilen. Was leisten die Sozialarbeiter täglich? Das Abendblatt hat die Mitarbeiter vom Allgemeinen Sozialen Dienst begleitet. Ein seltener Blick hinter die Türen einer geschlossenen Gesellschaft

Das Leben der kleinen Miriam begann vor drei Jahren in einem Paradies an der Großen Freiheit. Hausnummer 39. Im Hinterhof erinnert ein Gedenkstein an den Star-Club, in dem im April 1962 die Geburtsstunde der Beatles schlug. Heute ist hier das Thai Paradies, ein sogenanntes Laufhaus. Das bedeutet, dass in den Zimmern in den drei Stockwerken die Frauen aus Asien auf die Männer aus aller Welt warten, die hier Tag und Nacht durchlaufen.

Unten im Keller hausten drei Menschen in einem zwei mal zwei Meter großen Verschlag.

Miriam (Name geändert) war erst ein paar Wochen alt. Ihr Vater ist Thailänder. Ihre Mutter, ebenfalls Thailänderin, war aus dem Ruhrpott nach Hamburg geflohen. Sie hielt sich illegal in Deutschland auf und war zur Fahndung ausgeschrieben. Es gibt günstigere Startpositionen für ein Leben.

Als der anonyme Anruf aus der Großen Freiheit kam, ist Heiko Risch mit einem jungen Kollegen aus seinem Büro an der Simon-von-Utrecht-Straße rüber ins Thai Paradies gelaufen. Nachbarn hatten wiederholt Babyschreie gehört und das Jugendamt alarmiert. Der Brillenträger mit Oberlippenbart und Ohrring ist ein groß gewachsener Mann. 1,94 Meter, um genau zu sein. In der früheren DDR durfte er nicht studieren, weil seine Familie Westkontakte hatte. Also hat Heiko erst einmal als Matrose auf einem Binnenschiff das Zupacken gelernt, bevor er sich entschlossen hat, Erzieher zu werden. Warum er diesen Beruf ergriffen hat? „Der Beruf hat mich ergriffen“, sagt er.

Als er mit seinem Kollegen im Thai Paradies ankam, hörten sie von unten ein Baby schreien. „Wir sind die Stufen in den Keller runtergelaufen und entdeckten dort die kleine Familie in dem engen dunklen Verlies.“ Heiko Risch rief ein Taxi, das hatte aber keinen Kindersitz. Also nahm er die Kleine, packte sie unter seine warme Lederjacke und lief, die Eltern im Schlepptau, über die Reeperbahn zur Davidwache.

Man kann sagen, dass der Mann vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in Hamburg-Mitte mit seiner zupackenden Art dem Leben der kleinen Miriam vor drei Jahren eine entscheidende Richtung gegeben hat.

Menschen wie Heiko Risch, 47, kennen die Lebenswirklichkeit in der Stadt so gut wie niemand sonst. Sie kommen hinter die Türen, wenn andere nur Schreie hören. Sie sollen immer rechtzeitig zur Stelle sein und eingreifen, um womöglich die Katastrophe zu verhindern. Wenn Eltern sich gegenseitig die Hölle heißmachen. Wenn Jugendliche tagelang nicht mehr in der Schule erscheinen. Wenn Kinder blaue Flecken haben, die sich niemand so recht erklären kann. Oder will.

Es ist ein schwieriger Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle. Heiko Risch und seine rund 400 Kollegen vom ASD in Hamburg sind staatliche Wächter, aber sie sollen keine Eindringlinge sein. Sie sind meist ungebetene Gäste. Wenn es heißt: „Guten Tag, wir sind vom Jugendamt St. Pauli“, bedeutet das auch: „Wir haben Hinweise darauf, dass es in ihrer Familie ein Problem gibt.“

Auf St. Pauli gibt es davon eine ganze Menge. St. Pauli ist ein Dorf mit 22.000 Einwohnern, das die ganze Welt kennt. Seit 15 Jahren steigt die Zahl der Gewaltdelikte wieder an. 1509 waren es im Jahr 2011. Mehr als vier pro Tag. Gleichzeitig explodieren die Mieten. Immer weniger Menschen können es sich leisten, zwischen Neuem Pferdemarkt und Hafenstraße zu wohnen. Noch gibt es 20 Prozent Sozialwohnungen, doch die Mieten sind mit 12,30 Euro pro Quadratmeter mittlerweile genauso hoch wie in Eppendorf.

„St. Pauli wird schicker“, sagt Heiko Risch. Aber er kennt auch die vierköpfige Familie, die nach wie vor in einer Einraumwohnung lebt. Ohne Küche und Bad. „Die wohnen dort seit vier Jahren. Das grenzt an Kindeswohlgefährdung.“ Seit Jahren bemüht er sich, diesen Zustand zu beenden. Heiko Risch spricht von seinem „Revier“, und wenn er Hausbesuche macht, sagt er das auch: „Du wohnst in unserem Revier. Und ich möchte nicht, dass deine Kinder in Katzenkacke rumkrabbeln.“

Es ist ungewöhnlich, dass sich in diesen Zeiten Mitarbeiter vom Jugendamt in die Karten gucken lassen. „Wir möchten, dass die Öffentlichkeit weiß, was unsere Mitarbeiter leisten“, sagt Amtsleiter Peter Marquard. Als Chantal im Januar 2012 in der Wohnung ihrer Pflegeeltern in Wilhelmsburg an einer Methadonvergiftung gestorben ist, haben sich alle weggeduckt. „Nach dem Tod von Chantal hat es in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden kein ‚verlässliches‘ Krisenmanagement gegeben“, heißt es in einer Untersuchung der Uni Koblenz über den Hamburger ASD. Sie sollte helfen, den Fall aufzuarbeiten.

Weiter steht in der Studie, dass aus Sicht aller sieben ASD-Teams in Hamburg-Mitte „Druck und gleichzeitig Kontrolle in der Arbeit steigen, auch durch wachsende Verpflichtungen zur Dokumentation, die vor allem als Absicherung der Institution erlebt wird, nicht als Qualifizierung der Arbeit“. Heiko Risch sagt: „Knicken, lochen, heften – das ist ein Großteil meiner Arbeit. 80 Prozent gehen für Bürokratie drauf.“ Nur noch 20 Prozent blieben ihm für wirkliche Sozialarbeit vor Ort.

An diesem Dienstag trifft sich Heiko Risch mit Elif (Name geändert) und ihren Pflegeeltern. Elif wurde 1995 als Tochter einer drogensüchtigen Mutter auf St. Pauli geboren. Mit zwei Jahren kommt sie in ein katholisches Kinderheim in Hamburg. Erst mit vier lernt sie eine Familie kennen, kommt zu Pflegeeltern außerhalb Hamburgs, wächst dort mit neuen Geschwistern auf. Mitten auf dem Land. „Wir haben einfach gedacht, in unserem großen Haus ist Platz genug. Wir wollten einem fremden Kind die Chance auf ein normales Leben geben“, sagt der Pflegevater.

13 Jahre später wagt Elif wieder einen Neuanfang. Sie will in eine Jugendeinrichtung im Hamburger Westen einziehen. Die junge Frau mit den vollen schwarzen Haaren und den strahlend braunen Augen sitzt im Willkommensraum des freien Trägers, dessen Arbeit vom ASD bezahlt wird. Neben ihr Heiko Risch, gegenüber ihre Pflegeeltern, links ihre neue Bezugsperson. Elif will erwachsen werden. Und dabei braucht sie noch viel Hilfe. Im Sommer will sie eine Ausbildung zur Sozialpädagogischen Assistentin anfangen, im Anschluss vielleicht Erzieherin werden. Sie will Kindern helfen und bis zu ihrem Geburtstag im Dezember mit ihrem Freund zusammenziehen. Der weiß selbst, wie es ist, im Kinderheim zu wohnen. Auch über ihn gibt es eine dieser babyblauen Akten beim ASD.

„Kommt doch mal vorbei. Ich will ihn mal kennenlernen, deinen Freund“, sagt Heiko Risch. Er spricht Elif immer direkt an, stellt viele Fragen. Als der Pflegevater sich sorgt, dass seine Tochter noch kein Bankkonto habe und gar nicht wisse, wie man mit Geld umgehe, fragt Risch: „Was sagst du dazu, Elif?“

Am nächsten Tag sitzt Heiko Risch in einem Hilfeplangespräch mit einem jugendlichen Intensivtäter und dessen Mutter. Der 17-jährige Thorben (Name geändert) ist in einer Einrichtung außerhalb Hamburgs untergebracht, will seinen Schulabschluss machen und dann zurück nach St. Pauli. Sein Betreuer sagt, die Kunst sei es, Thorben klarzumachen, dass er unter Druck steht, was zum Beispiel Schulbesuch und Zeugnisse angeht, den Druck aber nicht zu groß werden zu lassen. „Das ist ein schmaler Grat. Thorben ist schnell verletzt, wenn man an seiner Ehre kratzt.“

Thorbens große Wut hat seinen Ursprung in der Kindheit. Jetzt hat er drei Menschen an seiner Seite, die es gut mit ihm meinen. Aber gehen muss er alleine. Sie zeigen ihm nur Wege auf, Berufsfelder oder ein freiwilliges soziales Jahr. „Was nützt es, wenn wir jetzt alles planen, und in einem halben Jahr kommt es doch ganz anders“, sagt Thorben. „Wir können gar nichts planen, das kannst nur du“, sagt Heiko Risch.

Dem Sozialarbeiter geht es weniger darum, immer sofort Lösungen anzubieten, sondern mehr darum, Fragen zurückzugeben. Mit Metaphern mal Verblüffung hervorzurufen. Und mit lockeren Sprüchen die Anspannung aus solchen richtungsweisenden Gesprächen rauszunehmen. „Das Leben ist kein Frotteebademantel“, sagt er gerne, um Jugendlichen zu erklären, dass es zum Selbstständigwerden gehört, eigene Erfahrungen zu machen. Und dabei durchaus auch mal zu scheitern.

Für ihren Job benötigen die ASD-Mitarbeiter nicht nur die richtigen Worte in schwierigen Situationen. Sie brauchen auch fachliche Kompetenz in so unterschiedlichen Bereichen wie Recht, Psychologie, Pädagogik, Verwaltung und Sozialmedizin. Immer haben sie es mit hochsensiblen Daten zu tun. Was sich ändern muss, haben sie in der Koblenzer Studie ebenfalls deutlich zum Ausdruck gebracht. Förderlich wären: bessere Bezahlung, eine Fallzahlobergrenze, Honorarkräfte fürs Protokollschreiben, mehr Orientierung und Rückendeckung durch die Leitung. Und eine positive Öffentlichkeitsarbeit. Dass sie immer nur in der Zeitung stehen, wenn das Kind buchstäblich in den Brunnen gefallen ist, empfinden sie als „ätzenden Medienhype“.

Hinderlich sind: ein hoher Verwaltungsaufwand, der nur noch das „Abspulen von Standards“ erlaube, aber keine individuelle Befassung mit jungen Menschen und Familien. Keine klare Definition der Aufgabe, gegenseitiges Misstrauen, keine Annahme von internen Risikoanzeigen, überwiegend junge Mitarbeiter ohne Praxiserfahrungen und unzureichend eingearbeitet. Und eine Zunahme von KWG-Meldungen durch Polizei und Schule.

KWG? Die Welt des ASD besteht aus Abkürzungen. Es sind so viele, dass jeder neue Mitarbeiter zum Start ein vierseitiges Abkürzungsverzeichnis bekommt. Von AAT (Anti-Aggressivitäts-Training) bis ZAF (Zentrum für Aus- und Fortbildung). Wer als Außenstehender an einer DB (Dienstbesprechung) über IO (Inobhutnahme) eines MUF (minderjähriger unbegleiteter Flüchtling) teilnimmt, ist dringend auf KB (Kollegiale Beratung) angewiesen.

KWG also sind Kindeswohlgefährdungen. Bei 230 neuen Fällen, die im Jahr 2011 beim ASD St. Pauli zu den ohnehin vorhandenen 200 Fällen dazugekommen sind, lag bei 45 ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vor.

Der Sozialforscher Kay Biesel hat den modernen Kinderschutz ein „hochriskantes Praxisfeld“ voller „unvermeidbarer Fehler“ genannt. Bei durchschnittlich 75 Fällen pro ASD-Mitarbeiter in Hamburg verbietet sich jeder Widerspruch. Heiko Risch spricht von einem Job, „bei dem man mit einem Bein im Gefängnis steht und auch mal nachts nicht schlafen kann“. Dafür bekommt er, der verheiratete Vater eines erwachsenen Sohnes, 24, der mit seiner Familie auch mal in einer Jugend-WG mit schwer erziehbaren Jugendlichen gewohnt hat, 3000 Euro brutto im Monat.

Im Flur des Jugendamts hängt ein großes Plakat. „Pauli sozial“ steht oben drüber. Mit Pfeilen sind 40 Anlaufstellen der Hilfe im Stadtteil markiert. Es ist ein sehr dichtes Netzwerk aus Schule und Polizei, Diakonie und Eltern-Kind-Einrichtungen, Kirche und Drogenberatungsstellen, Kitas und Heilsarmee, Kaffeeklappe und Haus Bethlehem. Heiko Risch betreibt seit Jahren Netzwerkmanagement im Arbeitskreis St. Pauli. „Das trägt immer mehr Früchte. Weil jeder aus seinem Blickwinkel auf den Fall schaut.“ Und trotzdem gebe es keine 100-prozentige Sicherheit.

Wenn wirklich Alarm ist beim ASD St. Pauli, dann ruft einer im Büro: „Zwangscafé“. Dann treffen sie sich im Besprechungszimmer, der Fall wird geschildert, und jeder sagt, welche Schritte er als Nächstes unternehmen würde.

Am Mittwochmorgen versammeln sich im großen Besprechungsraum um 9 Uhr 15 Frauen und Heiko Risch zur zweiwöchigen Dienstbesprechung der Region ASD 1, also St. Pauli, Alt- und Neustadt und Finkenwerder. Es gibt Tee, Kaffee und Kekse. An der Wand hängen bunte Bilder von fröhlich lachenden Kindern aus aller Welt.

Ein Thema ist die mögliche Schließung der Dienststelle auf St. Pauli wegen Personalmangels für einige Tage. Ein anderes Dauerthema: das vor einem Jahr angeschaffte PC-System. „Das ist die Elbphilharmonie der Jugendämter.“ 111 Millionen Euro kostet das „JUS-IT“-Programm. Ständig muss es nachgebessert werden. Polizeimeldungen konnten zunächst nicht im System wiedergefunden werden und verschwanden nach dem ersten Angucken. „Das neue PC-System ist der letzte Husten“, sagt eine Mitarbeiterin. Seit der Einführung könne sie nicht mehr sagen, wie viele Fälle sie tatsächlich bearbeite. Auch Heiko Risch sagt, es sei nicht möglich, zehn Telefonate wie gewünscht hinterher gleich in das System zu übertragen. Was ist realistisch? „Vier bis sechs“. Die anderen müssen eben warten, bis sie dokumentiert werden.

Tags darauf hat Heiko Risch einen Termin beim ReBBZ. Das regionale Bildungs- und Beratungszentrum firmierte bis vor Kurzem noch unter Rebus. Der Lehrer bittet den Mann vom ASD um Rat. Es geht um Hassan (Name geändert). Der Junge spricht nicht mehr. Obwohl er Deutsch und Türkisch kann. „Ich bin sicher, dass er traumatisiert ist, Hassan braucht dringend therapeutische Unterstützung“, sagt der Mann vom ReBBZ, der Hassan einmal täglich im Schulzentrum am Winklersplatz unterrichtet – eine Schule besucht er seit Herbst vergangenen Jahres nicht mehr.

Hassan braucht Hilfe. Doch die Eltern des Zwölfjährigen lassen Termine mit der Tagesklinik immer wieder verstreichen. Dem Lehrer vertrauen sie, aber vereinbarte Klinikbesuche werden immer wieder aufgeschoben. Risch hört sich alles an und sagt, er habe jetzt keine Wahl mehr, außer den Eltern gerichtliche Auflagen erteilen zu lassen. Er kennt Hassan, seit der als Achtjähriger von der Polizei auf der Reeperbahn aufgegriffen worden ist.

Schon Hassans ältere Schwestern standen vor Jahren beim ASD vor der Tür und haben ihn um Hilfe gebeten. „Ich habe bei den Eltern die A-Karte, ich bin das böse Jugendamt.“ Wenn die Eltern auch den kommenden Termin verstreichen lassen und ihren Sohn nicht dorthin begleiten, wo er die dringend benötigte Hilfe erhält, wird Risch versuchen, ihnen das Sorgerecht vom Familiengericht entziehen zu lassen.

Hassan lebt in einer der rund 200 Familien auf St. Pauli, die aktuell vom ASD unterstützt werden. „Wir bieten ihnen jede Hilfe an, die wir zu Verfügung haben. Aber wenn es nicht weitergeht, müssen wir sie aus den Problemfamilien holen“, sagt Risch.

So wie vor drei Jahren, als er die kleine Miriam erst zur Davidwache und danach zum Kinderschutzhaus gebracht hat. Er hat sich dann mit dem leiblichen Großvater getroffen. Der hatte zuerst mächtig Theater gemacht. Sie haben sich zusammengesetzt und sind schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass Miriam bei Oma und Opa aufwachsen solle. „Das stand auf der Kippe, aber irgendwann hat der Großvater gesagt, wir schaffen das.“ Das ist drei Jahre her. Heiko Risch hat immer noch Kontakt zur Familie. „Das ist das Schönste an meiner Arbeit“, sagt er. „Wenn du eine Akte irgendwann mit dem Gefühl schließen kannst, dass alle Beteiligten auf einem guten Weg sind.“