Auch Geheimdienste brauchen in der digitalen Welt Regeln und Kontrolle

Nachdem die Bundeskanzlerin vergangene Woche während des Besuchs von US-Präsident Barack Obama das Internet als Neuland bezeichnete, waren ihr Hohn und Spott der Netzgemeinde sicher. So mancher, der schon mal einen Begriff gegoogelt oder eine Mail geschrieben hat, der den Rest der Welt ungebeten mit Belanglosem oder Intimitäten in sogenannten sozialen Netzwerken überschüttet oder eine digitale Verabredung schon für eine vollendete Revolution hält, meinte, Angela Merkel für vorgestrig erklären zu müssen. Das ist gegenüber einer promovierten Physikerin und bekanntermaßen intensiven Nutzerin moderner Kommunikationsmittel nicht nur reichlich überheblich – es ist auch grundfalsch.

Von seinen bescheidenen Anfängen vor drei Jahrzehnten bis heute hat das Netz zwar eine beachtliche technische Entwicklung zurückgelegt. Welche Bedeutung es aber letztlich für unser aller Leben, in internationalen und rechtlichen Beziehungen haben wird, ist noch längst nicht abzusehen und deshalb auch noch weitgehend ungeklärt – und somit zum großen Teil politisches, diplomatisches und juristisches Neuland.

Auch viele, die sich in der digitalen Welt gut auszukennen glauben, haben in den vergangenen Tagen eine ganze Menge neuer Begriffe lernen können. „Prism“ etwa oder jetzt „Tempora“ – die amerikanischen und britischen digitalen Spähprogramme. Letzteres vom Inselgeheimdienst GCHQ betrieben, den allermeisten wohl bis dato unbekannt. Dabei existierten Vorläufer des „Government Communications Headquarters“ bereits im Ersten Weltkrieg und entschlüsselten im Zweiten die deutschen Chiffriercodes Enigma und T52.

Das gelang allerdings nicht durch flächendeckende Kontrolle des damaligen Post- und Telefonverkehrs, sondern durch qualifizierte und gezielte Geheimdienstarbeit. Und so werden sich die Nachrichtendienstler von heute fragen lassen müssen, ob zielgerichtete Arbeit nicht immer noch effektiver ist, als das Abgreifen ungezählter Gigabytes an Informationen und Daten; und ob sich die als Erfolg reklamierten vereitelten Terroranschläge nicht auch anders hätten verhindern lassen können als durch den allumfassendsten aller bisher denkbaren Lauschangriffe. Und das unter Zuhilfenahme sehr großzügiger Auslegungen eigener Rechtsbestimmungen, die im internationalen Maßstab – und in diesem bewegen sich die Datensammler – mit denen anderer Staaten kollidieren.

Es ist demokratischer Länder unwürdig, dass derartige Überwachungsprogramme ohne öffentliche Debatte und Kontrolle betrieben werden. Eine private Mitteilung geht niemanden außer Absender und Empfänger etwas an. Auch in Zeiten des Internets nicht. Es sei denn, es bestehen konkrete Verdachtsmomente auf rechtswidrige Handlungen. Geheimdienstarbeit darf sich nicht allein an den Erfordernissen tatsächlicher oder vermuteter terroristischer Bedrohungen und den gerade zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten orientieren. In demokratischen Gemeinwesen muss sie auch den Werten derselben und den Rechten der Bürger verpflichtet bleiben. Eine Einrichtung der nationalen Sicherheit sollte zumindest den für sie zuständigen demokratischen Kontrollgremien ihr Tun schlüssig erklären können. Wie Neuland bearbeitet und gestaltet wird, kann nicht allein denen überlassen werden, die am schnellsten sind oder gerade die besten Möglichkeiten für sich sehen.

Von den Kollegen aus den untergegangenen Diktaturen können sie zudem lernen, dass unbeschränkte Sammelwut nicht automatisch zu größeren oder besseren Erkenntnissen führt. Wer alles weiß – oder zu wissen glaubt – sieht auch schnell den Wald vor Bäumen nicht mehr.