65 Minuten bis Bremen. Lars Haider beobachtet, was in dieser Zeit im Intercity passiert. 65 Minuten ist der Titel der Text- und Fotoreportagen, die das Abendblatt in loser Folge veröffentlicht.

Eine Stunde und fünf Minuten. Das ist ziemlich genau die Zeit, die man braucht, um mit dem Zug von Hamburg nach Bremen zu kommen (was man manchmal unbedingt machen sollte!), zumindest im Durchschnitt. Der Metronom braucht 69 Minuten von Hansestadt zu Hansestadt, die Deutsche Bahn 55 Minuten, wohlgemerkt laut Plan. Vor zwei oder drei Jahren, als ich diese Strecke regelmäßig gefahren bin, habe ich mal eine Strichliste geführt, wie oft die Bahn tatsächlich pünktlich ankam. Nach 50 Strichen in der Spalte „verspätet“ war es genug.

Diesmal geht es pünktlich los. 16.46 Uhr, IC, mein Platz ist „gegebenenfalls reserviert“. Eine Formulierung, mit der zwei offensichtlich nicht Deutsch sprechende Reisende wenig anfangen können. Sie bleiben so lange unschlüssig stehen, bis erstens alle freien Plätze belegt sind und ihnen zweitens die junge Frau, die mir schräg gegenüber sitzt, im besten Englisch erklärt hat, welche Bedeutung die Worte haben, die über den Sitzen aufleuchten. „It sounds like an adventure“, sagt der männliche Teil des Paares, nachdem er verstanden hat, dass es das Beste wäre, wenn er und seine Begleitung nun möglichst schnell im Rest des Zuges nach einer Sitzgelegenheit suchen. Es ist 16.46 Uhr, Pendlerzeit, und, noch schlimmer: Die beiden Touristen sind im letzten Wagen des IC. Es wird ein langer Weg.

Normalerweise lohnt es sich, weiter hinten einzusteigen, weil dort im Notfall wenigstens bei den Fahrrädern noch ein Plätzchen frei ist, im größten anzunehmenden Notfall auf dem Boden vor der (unbenutzten) Lokführerkabine. Dort dürfte es momentan auch weniger nach Urin riechen als auf Sitz Nummer 27, der leider der Toilette am nächsten ist. Außerdem ... Moment, die Fahrscheine werden kontrolliert, und ich habe keine Ahnung, in welche Tasche meiner Jacke ich die vorläufige Bahncard 50 gesteckt und ob ich sie unterschrieben habe ... So was kostet unnötig Zeit, und das ausgerechnet bei einer Reportage, in der genau die knapp ist. 65 Minuten, wer denkt sich so etwas eigentlich aus?

„Das Fahrrad können Sie hier nicht mit durchnehmen“, sagt die Schaffnerin zu einem Fahrgast, der sein Zweirad nichts Böses ahnend durch den Gang schieben will, vielleicht in Richtung Toilette? „Das gehört eingehakt“, ruft sie durch den Wagen, und dann irgendwas, das wie „ich krieg noch Burn-out“ klingt. Es gibt wenig Spannenderes, als andere Leute beim Fahrausweisevorzeigen zu beobachten. Entschuldigung, jetzt bin ich wirklich dran … Alles in Ordnung, aber die Frau mit dem Fahrrad auf dem Gang hat ein Problem. Sie leidet unter einer Hundehaarallergie, und ausgerechnet im Fahrradabschnitt ist ein Hund, und deshalb wollte sie wohl samt Rad weiter nach vorn ... „Der eine hat dies, der andere hat das“, raunt die Schaffnerin im Vorbeigehen und verschwindet mit der Frau hinter der nächsten, mit Sicherheit Hundehaare abhaltenden Glastür. Mist, jetzt kann man das Gespräch der beiden nicht mehr hören. Dafür wird der Uringestank weniger.

Wir sind schon deutlich hinter Harburg. Wer hier in den falschen Zug einsteigt, hat Pech: Der nächste Halt ist Bremen Hauptbahnhof, wobei „Hauptbahnhof“ etwas anderes meint als in Hamburg. Auf dem Weg dorthin bekommt man schon ein Gefühl dafür, dass jetzt alles etwas kleiner wird. Wie klein, unterschätzen die Hamburger manchmal.

Es gibt die hübsche Geschichte eines Hamburger Paares, das gemeinsam mit dem Zug nach Bremen fuhr, um sich dort die Stadt einmal in Ruhe anzusehen. Er hatte das Angebot erhalten, zu einem großen bremischen Unternehmen zu wechseln, sie sollte entscheiden, ob sie dorthin mitgehen würde. Als die beiden nach einer ausgedehnten Rundtour durch die besten Wohngegenden und einem etwas kürzeren Innenstadtbummel wieder im IC nach Hamburg saßen, entspann sich folgender Dialog.

Er: „Und?“

Sie: „Komisch, dass das nobelste Viertel Bremens Schwachhausen heißt. Aber sonst hat mir die Stadt wirklich gut gefallen.“

Er: „Und die City?“

Sie: „Macht doch auf den ersten Blick einen guten Eindruck. Schade eigentlich, dass wir uns nur die beiden großen Einkaufsstraßen ansehen konnten. Aber den Rest erkunde ich dann, wenn wir in Bremen leben.“

Was die gute Frau nicht wusste: Den Rest gibt es nicht. Bremens City ist eine der kleinsten der größeren deutschen Städte, die Einkaufsfläche liegt weit unter der von Hannover. Und mehr als die beiden großen Einkaufsstraßen, die das Hamburger Paar gesehen hatte, sucht man vergeblich …

Deshalb wird ein Bremer, der im Zug mit einem Hamburger ins Gespräch kommt, auch zuletzt von den Shoppingmöglichkeiten in seiner Stadt sprechen – sondern vor allem vom Rathaus und dem dazugehörigen Markt, Bremens Welterbe, von den vielen Grünflächen, von den Bremer Stadtmusikanten, zu denen ich es vielleicht auch noch im Rahmen der vorgeschriebenen Zeit schaffen könnte. Um dann zu notieren, dass das Bremer Wahrzeichen viel kleiner ist, als man sich das als Hamburger, ach: als Deutschland-Reisender überhaupt vorstellt. Die Hufe des Esels, der ganz unten steht, anzufassen soll angeblich Glück bringen. Ob es auch gegen Hunde im Fahrradabteil hilft, ist nicht überliefert.

Fest steht hingegen, dass es gerade im Zug von Hamburg nach Bremen relativ leicht ist, einen Bremer zu erkennen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Denn der Bremer an sich trägt, insbesondere an Wochenenden, gern irgendein Werder-Accessoire an seinem Körper. Tut man das selber nicht, kann man schnell zum Außenseiter werden, als HSV-Fan sowieso. Vielleicht sollte ich einfach mal schnell auf YouTube gehen und „Hamburg, meine Perle“ anwerfen, die Fußballversion von Lotto King Karl, dann hätten diese Minuten eventuell ein ganz besonderes Ende. Moment, ich versuche es mal, bleiben Sie dran ...

Keine Internetverbindung!

Wieder nicht!

Soll keiner sagen, ich hätte mich nicht getraut!

Die ersten Häuser Bremens huschen vorbei, es ist erstaunlich, wie viele davon so nah an der Bahnstrecke stehen. Es sieht tatsächlich so aus, als könnte ausgerechnet dieser Zug pünktlich in den Hauptbahnhof einfahren, und mich mit der oben genannten Liste aussehen lassen wie einen Aufschneider. Wobei, jetzt werden wir langsamer, ab und an ruckelt die Bremse abrupt, was man hier am Ende des Zuges besonders stark merkt. Wir passieren Oberneuland, wo man in Toplage ein Haus bauen oder kaufen kann, für das man in Hamburg vielleicht eine passable Vierzimmerwohnung bekommt ... Seit wann haben die Sitze der Bahn eigentlich auch eine Nummerierung in Blindenschrift? Geht doch mit gutem Service!

Auf meiner Uhr ist es 17.42 Uhr. Ha, doch zu spät! Oder geht die Uhr falsch? Aus dem Fenster kann man einen Fernsehturm sehen, kleiner als der in Hamburg, aber genauso verrottet. Die ersten Fahrgäste stehen auf, obwohl es noch gar keine Durchsage gegeben hat. Doch, jetzt: Ich packe kurz zusammen und melde mich gleich noch mal. Von den 65 Minuten ist schließlich noch was übrig, vielleicht schaffe ich es bis zu einem Imbiss mit Stehtisch, auf den ich mein Notebook stellen und weiterschreiben kann ...

Typisch: Wenn man es eilig hat, wenn es um die letzten Zeilen geht, trifft man jemanden, den man kennt. Macht auch was mit Medien, und was er in der Kürze der Zeit erzählt, würde reichen, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen, auch mit starkem Bremen-Bezug. Aber die 65 Minuten sind um, in genau zehn Sekunden, und es bleibt festzuhalten: Ankunft 17.44 Uhr statt 17.41 Uhr! Aber ich glaube, bei der Bahn gilt ein Zug erst dann als verspätet, wenn er fünf Minuten hinter dem Fahrplan ist ... Schade, dass meine Klassenlehrerin früher nicht auch so gedacht hat.