Es war die Jungfernfahrt der Hamburger Viermastbark - und alles bei dieser Reise nach Südamerika war außergewöhnlich. Der Bericht von Kapitän Jürgen Jürs über einen Aufstand an Bord wurde erst vor Kurzem und durch einen Zufall wiederentdeckt.

Der Trog eines über Nordnorwegen liegenden Zentraltiefs schwenkte über die Elbe. Auf Hamburg fiel an diesem 24. Juli 1920 ein Viertel des normalen monatlichen Niederschlags. Sauwetter. Im Hafen kam der Lotse um 16 Uhr an Bord der Viermastbark "Priwall". Eine halbe Stunde später zog sie der Dampfer "Roland" elbabwärts. Um 5.20 Uhr erreichte der Schleppzug Cuxhaven und ging dort vor Anker. In rascher Folge zogen Teiltiefs durch. Ein grantiger Weststurm. Erst sechs Tage später konnte das imposante Schiff seine Jungfernfahrt fortsetzen. Die Männer, die auf dem Hauptdeck zum Himmel blickten, sahen sechs Reihen von Rahen auf Fock-, Kreuz- und Großmast über sich. Die Mastspitzen ragten 52 Meter über Deck hoch, daran angeschlagen 33 Segel - ein Gebirge aus Tuch. Der Rumpf maß 96 Meter "zwischen den Loten", seine größte Breite 14 Meter. Kraftvoll, aus Stahl genietet, ausgerüstet für die lange Fahrt nach Südamerika. "Das Schiff dicht und hecht, die Pumpen lenz", befand Kapitän Jürgen Jürs. Doch die erste Seereise des Windjammers sollte nicht so reibungslos verlaufen wie erhofft.

Im Gegenteil. Alles an dieser Fahrt war ungewöhnlich, schon der Auftrag. Als die "Priwall" auslief, hatte sie 234 Mann an Bord, 200 mehr als nötig. Der Frachtsegler nahm seinen Dienst als "Passagierschiff" auf. Eine Zweckentfremdung, die ihren Grund hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg lagen an der Westküste Südamerikas 57 deutsche Schiffe vor Anker, als Beute beschlagnahmt. Sie sollten zur Übergabe an die Siegermächte nach Europa zurückgebracht werden. Da kaum Besatzung an Bord war, wurden 800 deutsche Seeleute für die Überführung eingeschifft: 600 von ihnen auf dem Dampfer "Lucie Woermann"; 200 Mann auf der "Priwall". Die Bark sollte Valparaiso direkt anlaufen - rund Kap Hoorn.

Die Rückholaktion ging unter der Bezeichnung "Transport" über die Bühne. Die beteiligten Reeder hatten das "Deutsche Segelschiff-Kontor G.m.b.H." gegründet. Dessen Zweck war es, die Bemannung, den Transport der Ersatzmannschaften, die Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit und die Beladung der Schiffe zu organisieren. Die Siegermächte gestatteten den Reedern, auf der Heimreise Ladung auf eigene Rechnung an Bord zu nehmen. Das war so einträglich, dass zum Beispiel Laeisz seine beschlagnahmten Schiffe hinterher von den Alliierten zurückkaufen konnte.

Die Seeleute vom Transport wurden im Zwischendeck der "Priwall" einquartiert; sie schliefen in provisorisch eingerichteten Kojen. Es muss ein arges Notlager gewesen sein: zwei Hundertschaften in Provisorien, nachts in fast völliger Dunkelheit, nur ein paar Petroleumlaternen spendeten Licht, der Raum bei Schwerwetter kaum belüftet. Schier unvorstellbar, wie die Männer dort gehaust haben müssen. Als reines Segelschiff hatte die Viermastbark nur einen Motor zum Laden und Löschen an Bord. Keinen Hilfsantrieb, keine Elektrizität.

Wie außergewöhnlich die Reise verlief, ist Blau auf Weiß überliefert: auf einer hektografierten Kopie über die "Grosse Havarie". Dieses Dokument, eine offizielle Beurkundung wirtschaftlicher Verluste, die durch besondere Umstände auf der Fahrt eintraten, war jahrzehntelang verschollen und ist bislang unveröffentlicht. Wie durch ein Wunder blieb es erhalten - und gibt detailliert Einblick in die Vorgänge auf der "Priwall".

Als sich der Seegang auf der Nordsee beruhigt hatte, schleppte die "Roland" den Frachtsegler von Cuxhaven Richtung Ärmelkanal. In der von Kapitän Jürs angelegten Akte ist festgehalten: "Am 8. August in der Nähe von Start Point starb der Koch Ibsen infolge Herzschlags und wurde am selben Tag nach Seemannsbrauch über Bord gesetzt."

War es ein böses Omen? Oder nur einer von vielen Vorfällen, die damals auf langen Seereisen zur Tagesordnung gehörten?

In seinem Bericht schildert Kapitän Jürs, was weiter geschah: "Am 25. August stellten wir fest, dass die Ladung bestohlen war und verschiedene Kisten aufgebrochen. Am 31. August verweigerten die Transportmannschaften die Arbeit." Auf Seite 42 des Schiffstagebuchs trug Jürs ein: "Auf Anraten des Bootsmanns Moll warfen sämtliche zur Arbeit herangezogenen Leute vom Transport die Arbeit nieder. Vom Kapitän zur Rede gestellt, erklärte Moll, dass sie nach dem Kontrakt nicht nötig hätten zu arbeiten."

Es ist der Auftakt zu einer Meuterei - auch wenn die Männer, die sie anzetteln, gar nicht zur Crew zählen, sondern Passagiere sind, die nur gelegentlich mitanpacken.

Und die Lage sollte sich noch zuspitzen. "Schon während der ganzen Reise wurde festgestellt, dass die Frischwassertanks verschiedentlich von den Transportmannschaften durch Entnahme von Trinkwasser ohne Erlaubnis bestohlen wurden." Zu den Unruhen auf dem Transportdeck kommen wenig später weitere Vorkommnisse, die den Verlauf der Reise ernsthaft gefährden. Am 5. September bricht in der Reserveküche ein Feuer aus; es kann schnell gelöscht werden. Am 6. September morgens 4.15 Uhr erneut Feuer in der Back: Um an den Brandherd heranzukommen, muss sogar ein Schott abgenommen werden. "Es gelang die Löschung jetzt schnell durch Minimax."

Am 11. September folgender Eintrag: "Zimmerleute streiken, verlangen Extra-Gratifikation." Sie nehmen die Arbeit nicht wieder auf. Bei leichten Winden aus verschiedenen Richtungen lief die "Priwall" bis 25 Grad Süd und 30 Grad West. Dort eskaliert die Situation: "Die Leute wurden aufsässig."

Keine einfache Situation für den Kapitän. Jürgen Jürs aus Elmshorn war zu der Zeit im besten Mannesalter: buschige Augenbrauen, Tabakpfeife in der Faust, ein klares Gesicht, das oft ein verschmitztes Lächeln zeigt, Hände, denen man den Seemannsberuf ansieht. Kap Hoorn wird er in seinem Leben 66-mal runden, davon 50-mal als Kapitän. Ein Schiffsführer kraft Können, ohne herrisch zu sein.

Erst "jetzt bei Vollendung der Reise", schreibt Jürs später, "bin ich in der Lage, das Tagebuch zu vervollständigen: 16.09.1920. Nachdem schon seit einigen Tagen unter den Transportmannschaften Unruhen gewesen waren, kamen abends die Bootsleute Grosslohman und Moll sowie die Matrosen E. Schulz und Gattau und führten Beschwerde über nicht genügendes Essen. Sie sagten, falls diesem nicht abgeholfen würde, würden die Leute in den Proviantraum einbrechen. Ich hielt den Leuten vor, daß sie bedeutend mehr erhielten als ihnen nach der Speisetaxe zustände. Ich wäre aber geneigt, ihnen eventuell etwas mehr zu geben, falls sie mir ein Schreiben übergeben könnten von sämtlichen Backältesten unterzeichnet, worin klar ausgedrückt werden müsste, dass die Mannschaft nicht mit dem Essen auskommen könnte, um für meine Handlung eine Unterlage zu haben. Damit gaben sich diese Leute zufrieden."

Jürgen Jürs hatte Zeit gewonnen. Aber nur einen Tag. Er berichtet: "Am 17. morgens fand eine große geheime Versammlung im Zwischendeck statt, zu der weder ich noch meine Offiziere Zutritt hatten. ... Nach Schluss der Versammlung erschienen 6 Mann aus der Kommission von 18 Mann. Diese forderten von mir in frechem Tone die Übergabe des Proviants in eigene Verwaltung. ... Ich machte sie auf ihr gesetzwidriges Vorgehen aufmerksam. Da ich aber mit meinen Offizieren der Masse gegenüber machtlos war, musste ich mich bequemen, den Leuten den Proviant zu übergeben ... Durch diese Vorgänge war die Gefahr für Schiff und Ladung dringend geworden, sodaß ich mich entschloß, Montevideo als Nothafen anzulaufen."

Vom 24. September bis 10. Oktober lag das Schiff dort auf Reede. Ein von den Ersatzmannschaften gegründeter Bordrat ging in Montevideo zum Deutschen Konsulat, um für die Reise rund Kap Hoorn drei Forderungen zu stellen: Erstens wollte man an Bord eine Telegrafenstation haben. Zweitens sollten im Zwischendeck hölzerne Grätings verlegt werden, drittens wollte man wegen der zu erwartenden Kälte im Zwischendeck Öfen haben.

Dass Öfen, Telegrafiestation oder Grätings eingebaut wurden, ist höchst unwahrscheinlich, das belegt die überlieferte Aussage eines Mitglieds der Transportmannschaft: "Keine dieser Forderungen wurde erfüllt." Als Zugeständnis gestattete man den Seeleuten nur, regulär abzumustern. 53 Mann machten davon Gebrauch. Bei Antritt der Weiterreise am 12. Oktober nach Valparaiso sind noch 146 Mann an Bord. Mit gutem Wetter und wechselndem Wind kommt die "Priwall" bis 52 Grad Süd und 65 Grad West, wo der Wind auffrischt und stürmisch wird. Am 21. Oktober umsegelt sie Staten Island. Das Schiff arbeitet schwer in der hohen See. In der Region steigen die Wellenhöhen bei Sturm auf 15 bis 20 Meter. Die Wetterstation Ushuaia meldet für Oktober Tiefsttemperaturen von 2 bis 5 Grad. Härteste Bedingungen für die Crew.

Am 31. Oktober überschreitet die Bark westlich von Kap Hoorn 50 Grad Süd und erreicht schließlich "ohne besondere Vorkommnisse" am 12. November Valparaiso. Vor dem Deutschen Generalkonsulat machte Kapitän Jürgen Jürs seine "Verklarung".

Knapp 100 Jahre ist das her. Und doch gibt es heute noch Menschen, für die die erste Fahrt der "Priwall" von persönlicher Bedeutung ist. Im November 2010 hatte der Ingenieur und Segler Gerd Dittmann durch puren Zufall im brandenburgischen Gandow eine Kiste entdeckt - auf einem Flohmarkt. Als er sie öffnet, findet er einen Bericht über die Jungfernfahrt der "Priwall". Die Kiste hatte bei Entrümpelungsarbeiten nach einem Brand im Dachstuhl der Reederei Laeisz den Besitzer gewechselt, in den 80er-Jahren schon. Dittmann ist elektrisiert und kauft die Dokumente.

Der Fund gewährt Einblick in die geschäftlichen Belange der Reederei und enthält Papiere, die das yachtsportliche Engagement des Seglers Erich F. Laeisz (1888-1958) belegen. Die Zeitschrift "YACHT classic" berichtet erstmals 2012 darüber; das Abendblatt veröffentlicht Auszüge der Geschichte. Wegen der Erwähnung der "Priwall" meldet sich der Leser Georg Baumann: "Als ich die Geschichte über den Fund der Laeisz-Papiere las, gingen bei mir alle Lampen an. Meuterei auf der ,Priwall'? Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Einer vom ,Priwall'-Transport war mein Vater, der Schiffszimmermann Julius Emil Baumann, 1902 geboren, er hatte gerade seine Lehre beendet." Von dem Aufstand allerdings hatte Vater Baumann, der mit der "Priwall" nach Hause zurückgekehrt war, nie etwas gesagt. Inzwischen hat Georg Baumann den Text der wieder entdecken "Verklarung" gelesen, mit der Kapitän Jürs in Valparaiso den Diebstahl von Proviant und Trinkwasser sowie die Schwierigkeiten mit der Transportmannschaft belegt hatte. "Wie erstaunt war ich", schreibt Georg Baumann, "darin den Namen meines Vaters zu lesen. Er wurde beim Wasserdiebstahl erwischt. Auch davon hat er nie etwas erwähnt." Georg Baumann sucht in Familienunterlagen und findet ein Foto, das seinen Vater an Deck der "Priwall" zeigt. So bekommt eine längst vergessene Seefahrtsgeschichte ein Gesicht.

Nicht genug: Auch von Kapitän Jürgen Jürs, der die "Priwall" am 22. April 1921 sicher wieder nach Hamburg zurückgeführt hatte, tauchen Bilder auf, bewegte sogar. Er ist in einem der ersten Filme, die im Südmeer gedreht wurden, zu sehen, zu finden auf einer DVD mit dem Titel "Around Cape Horn". Es sind einmalige Filmaufnahmen, die ein junger Amerikaner namens Irving Johnson 1929 machte. Die spektakulärsten Szenen entstanden, als die "Peking", ebenfalls einer der legendären Flying-P-Liner, das Kap in wütender See rundet.

Später vertonte Johnson seinen Schwarz-Weiß-Film für den Mystic Seaport in Maine, USA, und spricht voller Bewunderung von einem Seemann. Dabei hält die Kamera auf den Kapitän der "Peking". Johnson ist so begeistert von ihm, dass er seinen Namen buchstabiert: "Jay Ju Ar Ess - Jurs". Der Kapitän der "Peking" auf der Reise von Hamburg war jener Jürgen Jürs, der neun Jahre zuvor schon die "Priwall" ums Hoorn geführt hatte und der zu dieser Zeit als einer der fähigsten Kommandanten der Flying P-Liner gilt.

Erstaunlich, was die See nach oben spült: verschollene Dokumente, Lebensspuren eines Vaters. Und dann sehen wir einen Mann wie Jürs, an Deck stehend, als sei er nirgendwo anders zu Hause, sein Leben einem Ziel geweiht: unter Segeln um Kap Hoorn.

Der Artikel ist ein Auszug aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "YACHT classic" (2/2013)