Zwei Brüder aus Hamburg flohen 1996 am Bahnhof in Erfurt vor Neonazis - offenbar war es das NSU-Terror-Trio. Damals erstatteten sie aus Angst keine Anzeige. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Hamburg/Erfurt. Es war ein kalter Silvesterabend, damals 1996, vielleicht minus zehn Grad, als die beiden Brüder aus Hamburg auf dem Weg zu einer Party in Thüringen halt am Bahnhof von Erfurt machten. Sie hatten noch Zeit, bis der Zug nach Ilmenau abfuhr, und bestellten sich einen Kaffee in der Bahnhofs-Gaststätte Mitropa. Nur eine Handvoll Gäste waren da, an einem Tisch saßen drei Neonazis, zwei Männer mit Bomberjacken und kurz geschorenen Haaren, und eine Frau.

So erzählt Dominik Reding, einer der beiden Brüder, dem Abendblatt den Fall von damals. Und: Er sei sich heute "sehr sicher", dass die drei Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren - die mutmaßlichen Rechtsterroristen, die zehn Menschen aus rassistischen Motiven ermordet haben sollen. 2001 auch den türkischen Lebensmittelhändler Süleyman Tasköprü in Hamburg-Bahrenfeld. 1998 tauchte das Trio in den Untergrund ab, von 2000 bis 2007 beging es unentdeckt von Polizei und Verfassungsschutz die Mordserie. Am 6. Mai beginnt in München der Prozess gegen Zschäpe, das einzig noch lebende Mitglied der Terrorzelle.

Im Erfurter Fall von 1996 ermittelt nach Informationen des MDR nun die Staatsanwaltschaft Erfurt in einem zweiten Verfahren gegen Zschäpe: Der Anfangsverdacht lautet "Versuchter mittäterschaftlicher Mord".

Die Brüder Reding trugen damals Ohrringe, Irokesenschnitt und Aufnäher mit "Anarchie". Öfter wurden sie von Neonazis angegriffen, verbal oder mit Schlägen. Das kannten sie. Diesmal mussten sie um ihr Leben rennen.

Als die Brüder in der Gaststätte saßen, kam erst nur Mundlos zu ihnen an den Tisch. "Er hat uns angemacht, ich habe versucht, ihn zu beruhigen." Mundlos ging zurück an den Tisch des Trios. Die Situation sei angespannt gewesen, sagt Reding. Dann eskalierte sie.

"Lauf, die haben eine Knarre!"

Als die Brüder in Richtung Gleis gingen, folgte das Trio. Redings Bruder Benjamin rannte schneller. Aber Dominik Reding ging normal, er wollte nicht das "einfache Opfer" spielen, nicht unnötig Unsicherheit zeigen. Doch dann rief der Bruder: "Lauf, die haben eine Knarre!" Reding rannte los, hörte die Schüsse, drei, vier, vielleicht fünf. Genau weiß er es heute nicht mehr. Auch nicht, ob die Schüsse auf ihn zielten oder in die Luft gingen. "Dann stand der Zug schon am Gleis. Das war unsere Rettung." Die Brüder sprangen in das Abteil, die Schaffnerin verriegelte die Türen. Eine Frau lag mit ihren zwei Kindern auf dem Boden des Abteils. Sie waren in Deckung gegangen. "Ich hörte Böhnhardt noch schreien, fast hysterisch kreischend, mit der Waffe in der Hand", sagt Reding. Und er habe Mundlos gehört, wie dieser auf Böhnhardt einredete, ihn beschwichtigte. Dann fuhr der Zug ab.

Reding lebte damals in Hamburg, hatte an der Hochschule für bildende Künste studiert und leitet heute gemeinsam mit seinem Bruder die Filmproduktion "Eye! Warning" in Berlin. Lange blieb den Brüdern der Vorfall im Kopf, sie verarbeiteten ihn sogar in einem ihrer Filme. "Wir haben damals aber keine Anzeige erstattet, weil wir schlicht Angst vor Rache hatten." Reding wohnte da in einer Erdgeschosswohnung in Billstedt. "Wir dachten, wenn die bereit sind, einfach so loszuschießen, zögern die nicht, uns auch zu Hause aufzusuchen und anzugreifen."

Mehrfach hörte das BKA nun die Brüder als Zeugen an

Im November 2011 flog das Terror-Trio auf. Die Republik war erschüttert, Bilder der drei Neonazis sah Reding in Zeitungen und Fernsehen. Und er erkannte Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sofort wieder. "Ich bin mir zu 95 Prozent sicher, dass es sich bei der Frau damals in Erfurt um Beate Zschäpe gehandelt hat", sagt Reding gut 16 Jahre nach dem Angriff. Er habe ihre braunen Haare, die verbitterte Mimik und den besonderen Gang sofort wiedererkannt, als das BKA einen kurzen Film der inhaftierten Zschäpe öffentlich zeigte, sowie Fotos aus der Zeit vor dem Untertauchen der mutmaßlichen Rechtsterroristen. Auch bei Mundlos und Böhnhardt sei sich Reding sehr sicher. Doch noch immer zögerten sie, gingen nicht zur Polizei. Erst als die Brüder hörten, dass wenig bekannt sei aus den frühen Jahren des Trios, meldeten sie im Herbst 2012 den Angriff in Erfurt 1996 dem Bundeskriminalamt.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt geht nun dem Verdacht nach, dass es sich bei den drei Tätern um Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt handelte. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat das Verfahren wegen fehlender Zuständigkeit zunächst an die Beamten in Erfurt abgegeben. 1996 habe es noch keine tatsächlichen Anhaltspunkte einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gegeben, heißt es in einem Papier, das dem MDR vorliegt. Außerdem sei offen, inwieweit der Vorfall von 1996 die Sicherheit der Bundesrepublik beeinträchtigen konnte. Mehrfach hörten Mitarbeiter des BKA nun die Brüder als Zeugen an, erst am Telefon, dann kamen sie zu ihnen nach Berlin. Die Gespräche dauerten mehrere Stunden.

„Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der zehn Opfer“

"Bei uns ist niemand erschossen worden, zum Glück", sagt Reding. Er wolle auf keinen Fall den Eindruck wecken, dass er und sein Bruder "jetzt an das Leid der Angehörigen anhängen, die ihre Söhne oder Väter durch die Morde des NSU verloren haben". Reding wollte vor allem zur Aufklärung beitragen. "Und wenn bisher wenig bekannt war über die Zeit des Trios vor 1998 kann unser Vorfall vielleicht wichtige Informationen geben. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der zehn Opfer."

Reding hat nun noch einmal nachrecherchiert, besuchte den Bahnhof in Erfurt vor ein paar Tagen, fand über eine Künstlerin sogar Fotos von der alten Gaststätte. "Alles sah so aus, wie ich es in Erinnerung hatte", sagt er heute. Nur an die Silvesterparty in Ilmenau, daran könne er sich nicht mehr wirklich erinnern. Zu tief saß der Schock.