Zwischen 1900 und 1930 wagten junge Hamburger Architekten einen ästhetischen Aufbruch. Die Ergebnisse kann man bei besonderen Führungen entdecken

Warum muss das Wetter bloß so ungemütlich sein? Hans Bunge, dick verpackt in einen winddichten Anorak, fingert einen Stapel Straßenpläne aus dem Rucksack. Jeder der knapp 20 Interessierten, die trotz der Kälte zum Treffpunkt am S-Bahnhof Othmarschen gekommen sind, bekommt einen Plan, in dem die architektonischen Kostbarkeiten der Elbvororte zwischen Klein Flottbek und Blankenese verzeichnet sind. Einige wollen wir bei diesem Rundgang kennenlernen. Viele Teilnehmer sind nicht zum ersten Mal dabei. Sie entdecken ihren Wohnort neu - nicht die weißen Gründerzeitvillen, sondern die junge Moderne im "Malerviertel" gleich westlich von der A 7, in dem viele Straßen die Namen berühmter Künstler tragen.

Diese junge Moderne ist erst seit der Ausstellung "Villen und Landhäuser" 2012 im Jenisch Haus ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Ausstellung zeigt historische Fotos und einige erhaltene Grundrisse von Häusern, die sich gutbürgerliche und wohlhabende Familien zwischen 1900 und 1935 in den Dörfern westlich von Altona bauen ließen. Häuser, die deutlich anders aussahen als die Herrenhäuser à la Jenisch oder Baur. Die Rundgänge mit dem Alltagsforscher Hans Bunge sind quasi die Ortsbesichtigungen zur Ausstellung. Dabei ist auch Rüdiger Joppien, ehemaliger Leiter der Sammlung Jugendstil und Moderne des Museums für Kunst und Gewerbe.

Nach wenigen Minuten Fußweg sammelt sich unsere Gruppe vor zwei Villen in der Jungmannstraße, Nummer 1 und 3. Beide haben die Architektenbrüder Gerson 1908 und 1909 für die Familien Bondy und Zadik gebaut (die Söhne Max und Curt Bondy wurden bekannte Sozialreformer).

1867 war die Altona-Blankeneser Eisenbahn in Betrieb genommen worden, sagt Bunge. Man konnte also morgens ins Kontor nach Hamburg fahren und abends zurück "aufs Land" nach Flottbek oder Othmarschen. Wer das Geld hatte, ließ sich hier etwas Besonderes bauen.

Haus Bondy mit dem tief herabgezogenen Dach ähnelt einem norddeutschen Bauernhaus, aber die Hallenform hat einen Knick, aus dem ein Türmchen wächst. Viele Gaubenfenster sorgen für Licht. Auch Haus Zadik wirkt originell mit halbmondförmigem Grundriss und einem Turm mit kleinem Turmhelm. "Diese Formen waren damals etwas völlig Neues", sagt Bunge.

Die Architekten Hans und Oskar Gerson waren damals erst 27 und 21 Jahre alt. Später bauten sie auch Kontorhäuser wie den Messberghof und den Thalia-Hof und wurden in den 1920er-Jahren Hamburger Star-Architekten. Mit rund 20 Privat- und Landhäusern für wohlhabende Kaufleute, darunter Nicolaus Darboven und Max Warburg, hatten sie prägenden Anteil am Stil des "neuzeitlichen hamburgischen Landhauses", so die Bauzeitschrift "Der Hamburger" 1912.

Von der Reventlowstraße aus können wir einen Blick auf die Hinterfront des Hauses Zadik werfen: Die Terrasse mit Beeten und winterlich gestapelten Gartenstühlen schmiegt sich geschützt in die Halbrundform. "Man wollte statt der repräsentativen klassizistischen Villa etwas Intimeres, Individuelles, in dem sich die Familie wohlfühlte", sagt Rüdiger Joppien. "Das war wie ein Rückzug ins Private, ein Cocooning. Das Villen-Souterrain verschwand, man trat gleich ebenerdig in den Garten. Von großen Balkons guckte die Familie ins Grün. Die Ziele waren privater Komfort, Bescheidenheit, Schönheit."

Nach dem Ende der Gründerzeit waren die jungen Hamburger Architekten im Aufbruch. Interessiert guckten sie nach Großbritannien, wo Künstler um William Morris mit der "Arts & Crafts"-Bewegung den Wert des Handwerklichen feierten, einen neuen "Cottage Style" prägten. Diese Elemente gefielen im anglophilen Hamburg. Auch hier gab es ab 1900 Bestrebungen, regionale Bautraditionen und Landschaften vor den "Verunstaltungen" des Industriezeitalters zu schützen. Architekten wie die Gersons, Künstler und Gartengestalter sahen sich als Teil dieser "Heimatkunst"-Bewegung: "zurück zu den Wurzeln" und zum Handgemachten anstelle von Fabrikerzeugnissen.

Ein gutes Beispiel zeigt uns Bunge um die Ecke an der Gottorpstraße. Die Häuser Nummer 3, 5 und 7 baute das Altonaer Architektenbüro Esselmann & Gerntke 1922 für drei befreundete Kaufleute. Tatsächlich ähneln sich die Häuser wie Geschwister mit ihren zu den Kaminen hochgezogenen Walmdächern und den prächtigen Klinkerverzierungen. "Backstein wurde auf breiter Front wiederentdeckt", sagt Hans Bunge. "Er war praktischer und billiger als Putzbau, und er entsprach den Zielen der Heimatkunstbewegung, regionale Materialien zu verwenden."

Der Klinker, bei 1200 Grad Brenntemperatur gefertigt, ist vor allem frostbeständig. Und aus den Farbvariationen von Schwarz über Rottöne bis Ocker verlegten Handwerker in der Gottorpstraße wunderschöne, zickzackförmig gemusterte Fassaden. Eine Othmarscherin in der Gruppe ist beeindruckt: "Ist mir noch nie aufgefallen", sagt sie, "jetzt weiß ich, worauf ich achten muss."

Ein grandioses Beispiel für die Verschmelzung aus Architektur, Kunsthandwerk und Handwerk zum Backsteinexpressionismus ist das Haus Cranachstraße 27, das wir jetzt ansteuern. Esselmann & Gerntke bauten es 1923, also zur selben Zeit, als das Chilehaus entstand (1922-24). Die spitzwinkligen Gauben, eckigen Fassadenreliefs und Klinkerdetails finden sich hier im Kleinen wieder. Die Eingangsfront ist eine symmetrische Komposition aus drei Türen zwischen vier Fenstern, getrennt durch angedeutete Säulenreliefs.

Heinrich Esselmann und Max Gerntke waren damals 33 und 28 Jahre alt. "Hier haben sich zwei junge Architekten ausgetobt, die die neuesten Einflüsse ihrer Zeit aufnahmen", sagt Hans Bunge. Wir haben Glück: Der Hausbesitzer ist daheim und öffnet die Tür für uns. "Die mittlere Tür war für den Hausherrn, die linke für die Köksch, die rechte für den Chauffeur", sagt er - 1923 hatte der gutbürgerliche Haushalt noch Personal. Das Treppenhaus ist wieder eine Reverenz ans Kunsthandwerk: Zwei Glasfenster sind mit Jugendstilmotiven verziert, die Geländer bestehen über drei Stockwerke aus Holzschnittarbeiten.

Ganz in der Nähe machte 1927 der Hamburger Architekt Karl Schneider mit einem weißen kubistischen Würfel von sich reden: dem "Haus Spörhase" an der heutigen Baurstraße 74, unserer letzten Station. Die Front wirkt schlicht mit den schmalen Querfenstern, angeschrägtem Balkon und dem Verzicht auf jedes historische Ornament. Auf die Klassizismus-verwöhnten Hamburger wirkte Schneiders "Weiße Moderne" wie ein Kometeneinschlag, sagt Hans Bunge. Kein Wunder, der 38-jährige Schneider war Mitarbeiter von Walter Gropius gewesen, "aber während Gropius in Berlin noch mit dem Expressionismus experimentierte, war Schneider schon weiter auf dem Weg zur Neuen Sachlichkeit", ergänzt Rüdiger Joppien. Schneiders berühmtester Bau war 1923 die kubistische Villa Michaelsen (heute das Puppenmuseum in Falkenstein), zwischen 1927 und 1930 gestaltete er aber auch die U-Bahn-Stationen Klosterstern und Hallerstraße und Wohnblocks etwa in der Jarrestadt und an der Maria-Louisen-Straße.

Zu unserem Rückblick auf die junge Moderne gehört allerdings auch, dass Schneider 1938 als angeblicher "Kulturbolschewik" seine Dozentur an der Hamburger Landeskunstschule verlor und in die USA emigrieren musste. Ebenso wie die Gebrüder Gerson. Viele ihrer Landhäuser wurden "arisiert".

Nach drei Stunden endet unsere Exkursion mit angeregten Grüppchen-Gesprächen. E-Mail-Adressen werden ausgetauscht, und die rötlichen Nasen zeigen: Es ist Zeit für heißen Kakao oder Glühwein. Die Tour hat jedenfalls bewiesen, dass Hamburg viel mehr vorzuzeigen hat als die weißen Villen an der Alster.