Abteilungsleiter geht juristisch gegen Generalstaatsanwalt Lutz von Selle vor, weil er sich verleumdet fühlt. Ein einmaliger Vorgang.

Hamburg. Als Freund von schnellen Verfahrenseinstellungen und prozessbeschleunigenden "Deals" zwischen Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigern galt Hamburgs Generalstaatsanwalt Lutz von Selle noch nie. Staatsanwälte, die aus seiner Sicht vorschnell zur Einstellung von Verfahren beitragen, finden sich, so heißt es aus Justizkreisen, in Windeseile im Zimmer ihres Generals wieder, wo es zum Teil lautstarke normenverdeutlichende Gespräche gebe, was zu einem "Klima der Angst" in der Anklagebehörde geführt habe, wie Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand berichten.

Im Falle eines Ermittlungsverfahrens, das jüngst eingeleitet wurde, nachdem ein Hamburger Oberstaatsanwalt Strafanzeige bei seiner Behördenleitung einreichte, dürfte dies vermutlich anders sein. Denn angezeigt hatte der Jurist seinen eigenen Chef, Lutz von Selle. Nicht einmal eine Woche brauchte die Abteilung 73 der Hamburger Staatsanwaltschaft, um den Verdacht der Verleumdung gegen Hamburgs ranghöchsten Ankläger vom Tisch zu bekommen: Verfahren eingestellt.

Mitarbeiter klagte auf Weiterbeschäftigung

Was war geschehen? Ein Hamburger Oberstaatsanwalt, der kurz vor der Pensionierung stand, hatte eine Verlängerung seiner Dienstzeit angestrebt. Er plante, da geistig und körperlich fit, seinen Dienst bis zum 68. Lebensjahr auszudehnen. Das wollte von Selle offensichtlich nicht. Doch der altgediente Mitarbeiter klagte. Im Eilverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht bekam er letztlich recht.

Nun fertigten zwei Vorgesetzte des Abteilungsleiters Stellungnahmen über den Mitarbeiter an, die von Selle an einen Amtsleiter in der Behörde für Justiz und Gleichstellung weiterleitete. In diesem begleitenden Schreiben sind die Formulierungen enthalten, die der Betroffene als ehrverletzend empfindet und gegen die er sich nun zur Wehr setzte. Der Generalstaatsanwalt signalisierte der Behördenleitung in dem Brief offenbar, dass er den Mitarbeiter für definitiv nicht fähig halte, weiter eine Abteilung - egal, welche - zu führen.

„Eindringliche Formulierungen“ erlaubt

Der Mitarbeiter zeigte von Selle wegen Verleumdung an, ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet und wenige Tage darauf mangels Anfangsverdachts wieder eingestellt. Begründung: Die Bemerkungen des Behördenleiters fielen in den Bereich der Meinung und Wertung. Den Tatbestand der Verleumdung würden sie deshalb nicht erfüllen. Schmähkritik oder eine formale Beleidigung, so heißt es offenbar weiter in einer Begründung des zuständigen Staatsanwalts, sei nicht gegeben, zumal die Äußerungen nicht im Zusammenhang mit einer Beurteilung gefallen seien, die für die Karriere des Mitarbeiters relevant sei, sondern zur Vorbereitung einer verwaltungsrechtlichen oder gar gerichtlichen Auseinandersetzung. Bei einem solchen "Kampf um das Recht" seien eindringliche Formulierungen zulässig.

Laut Stellungnahme der Staatsanwaltschaft hat von Selle im betreffenden Fall keinerlei Anweisungen gegeben, das Verfahren einzustellen oder als Berichtssache auszeichnen zu lassen. Bearbeitet wurde der Fall von der für Verfahren gegen Soldaten, Polizeibeamte und Vollzugsmitarbeiter sowie Amtsträger wie Richter und Staatsanwälte zuständigen Abteilung 73. Die Behördenleitung hatte es dorthin verwiesen. Die Entscheidung, das Verfahren einzustellen, sei von dem dortigen Dezernenten getroffen und von dessen Vorgesetzten gegengezeichnet worden.

Der betroffene Staatsanwalt erwägt, weitere Schritte einzuleiten. Denkbar wäre eine Dienstaufsichtsbeschwerde oder eine Privatklage.

Da hängt der Haussegen wohl gewaltig schief...

Nach Ansicht von Justiz-Insidern ist der Vorgang einer Strafanzeige aus Reihen der Staatsanwaltschaft gegen den eigenen Chef ein Novum in der Hamburger Justizgeschichte. "So etwas kann nur geschehen, wenn der Haussegen in der Behörde gewaltig schiefhängt", sagt ein Justiz-Insider. Vor allem junge Staatsanwälte, so heißt es, litten unter dem Druck, der ausgeübt werde. "General" von Selle gilt als extrem fleißiger, in manchen Dingen geradezu pedantischer Amtschef, der seine Kritik gegenüber Entscheidungen einzelner Mitarbeiter auch offen äußert.

So schickte er - wie das Abendblatt berichtete - eine Rundmail (Betreff: "Griechenland & Gewitter") über den Gesamtverteiler der Staatsanwaltschaft. Darin kritisierte er die Entscheidung eines Dezernenten in einem Wirtschaftsstrafverfahren, einer vom Richter empfohlenen Einstellung zuzustimmen. Kollegen des Betroffenen empfanden das Vorgehen als höchst unangemessen. Im vergangenen Jahr hatte der Chefankläger einen jungen Mitarbeiter versetzen wollen, nachdem der in einem Verfahren einen "Deal" mit Gericht und Verteidigung eingegangen war.

Der Schritt könne vor allem junge Staatsanwälte dazu bewegen, ihre Anträge im vorauseilenden Gehorsam zu stellen, so wird befürchtet. Kritik an seiner Amtsführung begegnete von Selle mit seiner Verpflichtung, Dienstaufsicht auszuüben. Richter bemerkten seit der Amtseinführung, dass deutlich weniger Verfahren mit einer Einstellung beendet werden könnten, obwohl dies manchmal sachgerecht erscheine. Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) soll von Selle bereits zu "mehr Konzilianz" aufgefordert haben.