Hizir Yildiz fährt seit 31 Jahren für die Hochbahn. Das Abendblatt begleitete ihn auf einer dreistündigen Kreuzfahrt durch Hamburg.

Der Wind pfeift eisig kalt über den Bahnsteig der Station Wandsbek-Gartenstadt. Der Februar-Himmel ist grau - so grau, wie die Betonplatten, auf denen die fröstelnden Menschen auf ihre Bahn in die Stadt warten. Noch sechs Minuten. Verspricht die Anzeigetafel in leuchtend roter Punktschrift über den Köpfen der in modisches Schwarz gekleideten Stadtmenschen.

Ich, du, er, sie, es ... 600.000 Männer, Frauen und Kinder fahren täglich mit der Hamburger U-Bahn. Zur Arbeit, zur Schule, zum Sport, zum Einkaufen und ins Kino. Sie lesen auf der Fahrt Zeitung, hören Musik, schauen aus dem Fenster auf die vorüberrauschende Stadt. Sie checken ihre Mails, quatschen miteinander oder dösen einfach vor sich hin - von Station zu Station.

Niemand sieht die Person ganz vorn im Zug. Kaum einer der Passagiere denkt wahrscheinlich überhaupt daran, dass da vorne jemand sitzt und alle ans Ziel bringt. Aber manch einer fragt sich vielleicht: Was macht der da vorn? Wer fährt mich eigentlich? Was denkt der Mensch, der uns lenkt?

Das Bahnsteigende am Gleis 4 ist unser Treffpunkt. Ein Mann kommt mit leichtem Schritt auf mich zu. Schon aus 30 Meter Entfernung denke ich: Das ist er. Hizir Yildiz ist einer von 500 U-Bahn-Fahrern bei der Hamburger Hochbahn. Seit 31 Jahren. 52 Jahre ist er alt. Geboren in der Türkei, aufgewachsen in Neumünster, zu Hause in Hamburg-Bramfeld. Heute fahren wir gemeinsam quer durch die Stadt.

10.50 Uhr: Die U-Bahn der Linie 1 trifft pünktlich in Wandsbek-Gartenstadt ein. Ein kurzer Gruß an den aussteigenden Fahrer, dann führt Hizir Yildiz mich an seinen Arbeitsplatz. "Kommen Sie hier durch", sagt er, kippt den Fahrersitz etwas nach vorn und zeigt mir den Klappsitz in der engen Kabine. Er steckt den "Zünd"-Schlüssel in die Armatur, legt sein Handy akkurat an eine Kante mit dem Display in Sichtverbindung. Über ein paar Tasten meldet er sich noch an - so kann die Leitstelle sehen, wer gerade mit welchem Zug wo ist. "Achten Sie darauf. Beobachten Sie ihr Gefühl, wenn wir gleich in den Tunnel fahren", sagt Yildiz, als wir losfahren. Es sind nur wenige Hundert Meter bis zur Tunneleinfahrt. Und wirklich: Es ist ein seltsames Gefühl. Die ersten Sekunden sieht man nichts, aber auch gar nichts in dieser Unterwelt. Es ist, als führe man gegen eine Wand.

Erst allmählich, nachdem sich die Augen an das spärliche Licht gewöhnt haben, erkennt man Details. Hier ein Abstellgleis im Tunnel, dort lagern Baumaterialien und Maschinen von wahrscheinlich nächtlichen Reparaturarbeiten. Tunnel ist nicht gleich Tunnel. Einmal rauschen glatte Betonwände an uns vorbei, dann wird der Tunnel zur breiten Halle. Manchmal scheint etwas Sonnenlicht durch einen Notausstieg in die Tiefe hinab. Und noch ein paar Hundert Meter weiter wird es plötzlich schlauchartig eng.

Die rechte Hand hat Yildiz die ganze Zeit an einem kleinen Hebel. Damit beschleunigt und bremst er den Zug. Auf manchen Streckenabschnitten darf er 80 Kilometer pro Stunde fahren - in der Innenstadt mit teilweise engen Kurven im Tunnel ist bei Tempo 50 Schluss. Mit dem rechten Fuß tritt er während der ganzen Fahrt den sogenannten Totmannschalter. Nimmt er seinen Fuß von diesem Pedal stoppt der Zug automatisch.

"Schauen Sie mal: Hier kann man sehen, wie viele Meter der Zug seit dem letzten Bahnhof gefahren ist", sagt Yildiz und zeigt auf einen Monitor an der rechten Seite des Fahrerstandes. Zwischen Hauptbahnhof-Süd und Steinstraße sind es nur 490 Meter. Das ist der kürzeste Abstand zwischen zwei Stationen auf der Strecke. Unter dem Monitor befinden sich diverse Schalter: Hiermit steuert Yildiz die Ansagen im Zug.

Zwischen Hallerstraße und Stephansplatz reicht die Zeit für einen kleinen Kaffee im Zug-Cockpit. Hier gibt es mit 1,5 Kilometern den längsten Abstand zwischen zwei Tunnelbahnhöfen auf der Linie. Yildiz greift in seinen Rucksack und kramt eine Thermoskanne hervor. Er nutzt die minutenlange Fahrt unter der Rothenbaumchaussee, um einen Milchkaffee zu trinken. Hier sieht die schwarze Tunnelstrecke fast provisorisch aus. Die mannsstarken Stahlstützen zwischen den Gleisen münden oben in Nieten beschlagenen Trägern.

Yildiz fährt fast alle Zugtypen auf allen vier U-Bahn-Linien. Welche ihm die liebste ist? Er muss einen Moment überlegen und guckt in die Tiefe des Tunnels hinaus: "Die U1 ist eigentlich optimal. Da hat man fast anderthalb Stunden seine Ruhe." Der Vater von fünf Kindern im Alter von 11 bis 26 Jahren ist ein freundlicher, ein witziger Mann. Aber: "Ich kann mich gut auch einmal eine Stunde ohne Unterhaltung allein konzentrieren." Immerhin: 55,8 Kilometer sind es zwischen den beiden Endhaltestellen. Das ist mehr als die Hälfte der Länge des Hamburger U-Bahn-Netzes. Oder noch beeindruckender: Die U1 ist Deutschlands längste U-Bahn-Linie.

Höchste Konzentration ist bei jeder Einfahrt in einen Bahnhof geboten. Auf den Punkt genau muss der Zug stoppen. Über den Monitor beobachtet Yildiz, wie die Menschen aus- und einsteigen. Den Knopf für das Signal zum Türschließen gibt er erst, wenn niemand mehr über die Linie am Bahnsteigrand getreten ist. Bei Großveranstaltungen mit überfüllten Bahnsteigen kann das ganz schön schwierig werden. "Man merkt, dass immer mehr Menschen mit der U-Bahn fahren", sagt er. Besonders auf der U2, die sei immer voll.

Auf dem Monitor zu seiner Linken sieht Yildiz, ob er zu schnell gefahren ist oder Verspätung hat. Dann erscheint ein Hinweis wie "A-Max" (soll heißen: Gib Gummi!) oder "A-Max 40", damit er etwas langsamer fährt, um den Fahrplan einzuhalten.

Hizir Yildiz ist U-Bahn-Fahrer aus Überzeugung, auch wenn er sich vor 31 Jahren eigentlich bei der Hochbahn als Busfahrer beworben hatte. Er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten, war aber noch zu jung, um als Busfahrer anzufangen. Doch als Haltestellenwärter (die fertigten früher die Züge ab) könne er gleich anfangen, hieß es. Dann könne er mit 23 Jahren immer noch die Ausbildung zum Busfahrer machen. Yildiz wurde U-Bahn-Fahrer - und möchte nicht mehr tauschen. "Da oben bei dem Verkehr und mit Fahrkartenverkauf an jeder Haltestelle - nein danke", sagt er.

"Wenn ich irgendwo in einer anderen Stadt bin, schaue ich mir die U-Bahnen an." Kürzlich war er in Berlin: "Kein Vergleich zur Hamburger U-Bahn", sagt Yildiz voller Stolz. Und: "Haben Sie die neuen Stationen in der HafenCity schon gesehen? Das ist doch wirklich toll, was die Stadt da geschaffen hat."

Auf den langen oberirdischen Streckenabschnitten kommen uns immer wieder Züge entgegen. Yildiz hebt kurz die Hand zum Gruß. Die meisten kennt er aus drei Jahrzehnten, "viele habe ich ausgebildet", sagt der U-Bahn-Fahrer und Fahrlehrer.

Um 10.50 Uhr hat er den Zug in Wandsbek-Gartenstadt übernommen. Jetzt ist es 11.40 Uhr und wir sind fast in Norderstedt. Die Zeit ist wie im Fluge vergangen. "So ist das mit den Fahrten hier, mit den Tagen in der U-Bahn - aber auch mit den Jahren", sagt Yildiz und lacht - fast ein wenig philosophisch.

An der Endhaltestelle Norderstedt hat Hizir Yildiz sieben Minuten Pause. Dann fährt er den Zug zurück in die Stadt. Die kurze Zeit nutzt er, einen Kaffee im Pausenraum auf dem Bahnsteig zu holen - und an einem Infoterminal seinen "Fahrplan" für die nächsten Tage auszudrucken. Bei dem Job brauche man auf jeden Fall einen Ausgleich sagt er: Hizir Yildiz ist Karatekämpfer. Seit 1977 übt er den Sport im SC Concordia auch als Trainer aus.

An der Haltestelle Alter Teichweg beobachtet Yildiz auf seinem Monitor eine Schülerin. Sie beeilt sich, will die Bahn noch bekommen. "Sie hat ihre Mütze verloren", sagt Yildiz. Er wartet einen Augenblick. Eine Hand greift aus dem Zug, holt hastig die Mütze hinein. Alles gerettet. Die Türen werden geschlossen. "Wenn ich so etwas sehe, warte ich natürlich", sagt er. "Auch wenn jemand den Zug noch erwischen will." Manchmal kann er es über die Kameras nicht rechtzeitig sehen. Wenn die Abfertigung abgeschlossen ist, kann er die Türen nicht mehr öffnen.

Kurz vor der Endhaltestelle Ohlstedt fahren wir durch den kahlen Wald: "Wenn hier in ein paar Wochen der Frühling beginnt, ist es, als führe man durch ein leuchtend grünes Paradies", sagt Yildiz begeistert. Nach gut drei Stunden Fahrt quer durch Hamburg und unter Hamburg hindurch verabschiede ich mich von ihm. Morgen fährt er wieder auf einer der vier Linien. Und ich? Ich schaue künftig anders auf den einfahrenden Zug. Vielleicht ist es - mein Freund der U-Bahn-Fahrer.