Vor Gericht geht es um 14 Fälle. Doch die Anklage förderte noch mehr zutage: Vor vielen Jahren verging sich der Mann an seinen Nichten.

Hamburg. Michael P. achtete auf Sauberkeit. Wenn jemand zum Beispiel am Jungfernstieg ein Kaugummi achtlos auf den Gehweg spuckte, ermahnte der Mann vom Ordnungsdienst den Sünder, schnittig mit weißer Mütze und lederner Uniformjacke, auf dem Ärmel das Hamburg-Emblem. Dann kassierte er 10 Euro und sorgte weiter für Reinlichkeit im Stadtbild.

Seit gut einem Jahr aber ist Michael P. nicht mehr auf den Straßen der Stadt im Einsatz. Damals begannen die Ermittlungen gegen ihn. Es geht um Kindesmissbrauch in 14 Fällen, an drei verschiedenen Mädchen, die damals neun bis zwölf Jahre alt waren. Die Taten sollen sich zwischen 2003 und 2009 ereignet haben. P. hat für den Prozess ein Geständnis vorbereitet. Doch der Prozess ist nur das eine. Das andere ist seine Familie: Als die beiden Nichten Anja und Martina vom bevorstehenden Prozess erfuhren, gaben sie ein Geheimnis preis, das sie beide seit mehr als 20 Jahren als zentnerschwere Last mit sich herumtrugen. Auch sie waren, so berichten sie, als Kinder von dem Mann missbraucht worden. Über Jahre immer wieder. Erzählt haben sie sich und anderen davon nichts. Bis jetzt.

Anja, die Ältere, erfuhr zuerst von dem, was ihrer Familie nun bevorsteht. Aus dem Kreis der Angehörigen drang das Gerücht einer Anklage gegen ihren Onkel durch. Gegen den Sohn ihrer Oma, den Bruder ihres Vater. Sie befragte ihre Großmutter, eine starke Frau von Anfang 70, sah ihre Sorgen. Die Oma schwieg, es schien sie zu zerreißen. Die Oma, die sonst so gerne auf die Urenkel aufpasst. Sie besuchte Anja zu einer außergewöhnlichen Uhrzeit. Als die beiden Kleinen im Kindergarten waren. Vielleicht wollte sie gern reden, doch sie konnte nicht. Am Ende war klar: Der Michael steht bald vor Gericht. Es wird darum gehen, dass er drei Mädchen missbraucht haben soll. Michael, das vierte Kind der starken Großmutter. Zwei Töchter und einen Sohn hatte sie vor ihm bekommen. Wenn sie die Vorwürfe hört, schaudert es ihr. Es ist ihr so unangenehm. Das älteste ihrer Kinder ist der Vater von Anja und Martina. Ein Geschäftsmann, ein Mann mit Charisma, dem der Erfolg schon immer zufiel.

Ganz das Gegenteil vom Michael, dem Sorgenkind.

Michael ist jetzt 43 und wohnt wieder bei ihr, bei seiner Mutter, die sich für ihn schämt. Sie hatte gedacht, mit den schlimmen Anschuldigungen, die ein Mädchen aus der Nachbarschaft und zwei Töchter von Freunden erhoben - und deren Wahrhaftigkeit der Beschuldigte offenbar bestätigte - sei der tiefste Punkt erreicht. Sie dachte, schlimmer könne es ja nun nicht mehr werden. Sie irrte sich. Gewaltig.

Anja brach in Tränen aus, als sie mit ihrer Oma sprach. Die zweifache Mutter, eine selbstbewusste Frau von 36 Jahren, die mit ihrem Ehemann in einer der feinsten Ecken der Stadt lebt, offenbarte nun etwas, was sie bisher niemandem erzählt hatte. "Oma", sagte sie. "Mit mir hat Michael das früher auch gemacht." Wenn ich bei euch war, haben wir Höhlen gebaut, so schilderte sie es ihrer fassungslosen Großmutter. "Dann hat Michael sich vor die Höhle gestellt und gesagt, dass ich nicht rauskomme, wenn ich nicht tue, was er will. Das, was er wollte, war ekelhaft. Aber er drohte, dass ich Mama und Papa nicht wiedersehe, wenn ich nicht gehorche", berichtet Anja. Dies war einer der Gründe, warum sie ihre Abscheu überwand und sich fügte. Der Täter beherrschte offenbar das Spiel mit der kindlichen Urangst. Genau kann Anja sich nicht erinnern, wie alt sie damals war, wie oft und zu welchen Anlässen sich der Onkel an ihr verging. Was sie noch genau weiß: "Ich wollte nie mit ihm ins Kinderzimmer gehen, wenn er zu Besuch war." Doch dann schnappte er sich das kleine Mädchen einfach, setzte es sich auf den Schoß und spielte "Hoppe Reiter".

"Ich habe all das ja auch über mich ergehen lassen, weil ich dachte, dann macht er es jedenfalls nicht mit meiner kleinen Schwester", sagt Anja. "Ich war so naiv zu glauben, dass er sie in Ruhe lässt, wenn er mich hat." Um sie, die sechs Jahre jüngere Martina, zu schützen, ließ Anja Dinge mit sich geschehen, die kein Kind erleben sollte. Am Abend nach dem Gespräch mit der Oma, dem Gespräch, das in ihr Erinnerungen weckte, die sie abgekapselt zu haben glaubte, von denen sie dachte, sie habe sie im Laufe der Jahrzehnte erfolgreich verdrängt, rief sie ihre Schwester an. Sie lebt im Ausland, hat lange nach dem Glück gesucht und es gefunden. So wie Anja mit ihrer Familie. "Martina", sagte sie am Telefon. "Ich muss dir jetzt einmal etwas erzählen."

So fing sie an von Onkel Michael und seinen Taten. "Sag mir ganz ehrlich: Hat er auch dir das angetan?" Und Martina sagte, als sie den ersten Schock überwunden hatte: "Anja, das hat er mit mir auch gemacht." Beide weinten.

Am Montagabend ist Martina nach Hamburg gereist. Viele Stunden sprachen sie über die Vergangenheit - und über die Gegenwart. Vieles wird sich für sie ändern in dieser Woche, in der ihr Onkel vor Gericht steht und der dunkle Fleck in der Familiengeschichte sichtbar wird. Über den sie auch schwiegen, weil sie dachten, die Großmutter würde an solchen Vorwürfen zerbrechen. Die Schwestern haben Kontakt zu den Nebenkläger-Anwältinnen aufgenommen. Doch ob ihre Geschichte bei der juristischen Aufarbeitung des Falls Michael P. berücksichtigt wird, das steht noch in den Sternen. Angeklagt ist er wegen 14 Taten in den Jahren 2003 bis 2009. Damals hatte Michael P. eine Freundin. Von Beruf war sie Kinderkrankenschwester. Dreimal soll er die Tochter eines befreundeten Paares missbraucht haben, neunmal ein anderes Mädchen, an das er ebenfalls über Freunde gelangte. Einmal soll es ein Kind aus der Nachbarschaft getroffen haben. Die Mädchen waren neun bis elf Jahre alt. Anja und Martina waren ihrer Erinnerung nach ebenfalls in diesem Alter, als der Onkel sich an ihnen verging.

Dass sie so lange schwiegen, sich so lange schämten, könnte dem mutmaßlichen Täter nun nützen: Die Taten sind vermutlich allesamt verjährt. Zehn Jahre bleiben kindlichen Missbrauchsopfern nach dem 18. Geburtstag, die Taten anzuzeigen, 20 sind es, wenn der Täter in Körperöffnungen eingedrungen ist, die Kinder vergewaltigt hat. Die Verjährungsfristen sind seit Jahren umstritten. Geändert wurden sie bislang nicht, was Opferschützer kritisieren.

Möglich, dass die Verwandten als Zeuginnen im Prozess gegen ihren Onkel aussagen - damit das Gericht sich ein Gesamtbild vom Angeklagten machen kann. Dort erwartet den 43-Jährigen eine Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren, sofern die Kammer den Fall nicht an ein höheres Gericht verweist. Mit einem erwarteten Geständnis wird er den jetzt 15 bis 18 Jahre alten Mädchen Aussagen ersparen.

Die Nichten des Angeklagten wollen den Prozess nicht nur zur Aufarbeitung des eigenen Traumas nutzen. Eine Frage treibt die Schwestern um: "Was geschah, als er mit uns fertig war? Was war in der Zwischenzeit?" Die Taten an Anja und Martina endeten in den späten 80er-Jahren, angeklagt sind Fälle ab 2003. Michael, der anders als seine Geschwister seit seiner Pubertät Probleme mit dem Selbstvertrauen vor sich her schob, habe schließlich immer den Kontakt zu Kindern gesucht, sagt Anja.

Eine Zeit lang trainierte er kleine Fußballspieler beim FC St. Pauli. Zwei seiner Freundinnen hatten beruflich mit Kindern zu tun. Es sind Verdachtsmomente, mehr nicht. "Doch was, wenn er noch mehr Taten begangen hat?" Jemand, der diesen Trieb hat, der hört doch nicht einfach für ein paar Jahre auf, so fürchten die Frauen.

*Namen geändert