Ein Kommentar von Alexander Josefowicz

Mit der Entscheidung, "Opfer-Abo" zum Unwort des Jahres zu küren, hat die Jury einen ungewöhnlichen Entschluss getroffen: Statt einen der Vorschläge auszuwählen, die tatsächlich 2012 den medialen Diskurs bestimmt haben, entschloss sie sich dazu, einer nur einmal vorgeschlagenen und kaum mehr im gesellschaftlichen Gedächtnis verankerten Äußerung von Jörg Kachelmann die zweifelhafte Ehre zu erweisen.

Das Wort setzte er im vergangenen Oktober in einem "Spiegel"-Interview in die Welt: Eine abstruse Verallgemeinerung, die Frauen pauschal unterstellt, sie würden sexuelle Gewalt erfinden, weil sie sich darauf verlassen könnten, vor Gericht die Opferrolle einzunehmen. Über seine "Auszeichnung" scheint sich Kachelmann regelrecht zu freuen, er twitterte am Dienstag: "Hui, das Unwort des Jahres. Wer hats erfunden? ;-)"

Das "Opfer-Abo" verstoße gegen die Menschenwürde tatsächlicher Opfer und perpetuiere gängige Vorurteile, so die Jury in ihrer Begründung. Trotzdem könnte sie dem Anliegen einen Bärendienst erweisen: Noch am Dienstagmorgen wusste kaum jemand, was der Begriff überhaupt meint, der da zum Unwort erhoben wurde. Kachelmanns selbstgerechte Tirade war längst ad acta gelegt worden. Jetzt aber besteht die Gefahr, dass sich das "Opfer-Abo" verselbstständigt, zum bequemen Stammtisch-Etikett wird - und so tatsächlich zu einem Unwort.