5000 Teilnehmer haben beim Kongress des Chaos Computer Clubs vier Tage über die Online-Zukunft diskutiert. Dabei ging es sehr kreativ zu.

St. Pauli. Wer keine schwarze Kleidung trägt, fällt auf, wer über 50 Jahre alt ist, erst recht. Wer keinen in Bahrenfeld gebrauten, außerordentlich koffeinhaltigen Mate-Tee und keine Chili-Chipstüte in Reichweite hat, bringt die Kongressnächte nicht hellwach über die Runden. Wer andere siezt, fällt völlig aus dem Rahmen. Und wer nicht unentwegt twittert, simst oder surft, kommt sich vor wie von einem anderen Stern.

Dass die 5000 Teilnehmer des viertägigen "Chaos Communication Congress" im kurzerhand von CCH in CCC umgetauften Veranstaltungszentrum gratis WLAN rund um die Uhr und ein eigenes Mobilfunknetz nutzen, passt ins unorthodoxe Bild.

Tatsächlich war die altehrwürdige Tagungsstätte am Dammtor selten von derartiger Kreativität und virtuellen Visionen beseelt wie in den vergangenen Tagen: von Chaos bei der Organisation keine Spur. Die acht Meter hohe, selbst gebastelte Rakete vor dem Hauptportal, eine Art Maskottchen namens Fairy Dust, gilt als Programm: Die Gemeinde der Hacker macht sich mit Volldampf auf den Weg in die Online-Zukunft. Dabei geht es weniger um noch mehr Geschwindigkeit und noch rasantere Kommunikation im weltweiten Netz als vielmehr um die Mutter aller Fragen in der Szene: Wie können die Pluspunkte grenzenloser Freiheit im Internet für unsere Gesellschaft genutzt werden? Ganz pragmatisch und ethisch einwandfrei.

Das Motto der Veranstaltung, typisch, ist ironisch gewählt: N-O/T.MY D/E.PA-R/T.ME-N/T - genau so geschrieben. "Das ist nicht meine Angelegenheit" soll, frei übersetzt, genau das Gegenteil besagen. Nicht Passivität und Wegschauen, sondern Einmischen und aktives Handeln sollen die Gebote der Online-Generation sein. Zwar wird während der 96 Stunden des Kongresses auch gespielt und gebastelt, doch liegt der Schwerpunkt auf politischen Diskussionen. In allen möglichen Foren, hyperspontan anberaumt, geht es um Strategien, die Freiheit im Internet zu verteidigen, Vorratsdatenspeicherung sowie Zensur zu verhindern und die Bezahlung der Online-Nutzung einzudämmen.

Für den Neuling heißt dies, Vorurteile über Bord zu schmeißen, denn Hacker, so die erste Lehre, müssen nicht zwangsläufig Computer-Saboteure sein, die in fremde Systeme eindringen und Netzwerke lahmlegen. "Hacker sind kreative Menschen, die getrieben sind, etwas anderes zu machen als ursprünglich gedacht", definiert Alexander Bernhardt das Credo seiner rund 5000 Seelenverwandten vor Ort.

Unter dem Strich sei Hacken nichts anderes als der artfremde Gebrauch von Technik. Ohne Fantasie und Sinn für grenzenlose Demokratie laufe gar nichts. Entscheidend ist, mit Können und Wissen verantwortlich umzugehen.

Alexander Bernhardt, 42, zählt zur zweiten Generation des 1981 gegründeten Chaos Computer Clubs mit heute rund 3000 Mitgliedern. Für Spinner und Spleens ist durchaus Platz, aber nur vereinzelt. Mann ist sachlich und kompetent präsent. Weil Frauen zwar im Kommen, jedoch nach wie vor in der Minderheit sind.

Der gebürtige Lübecker Bernhardt hat sein Hobby zum Beruf gemacht und führt in Altona eine Online-Agentur mit acht Angestellten. Was 1988 "als Späteinsteiger" mit einem Atari ST 260 begann, wird heute mit einem Macbook Air fortgesetzt. Und natürlich hat der Jungunternehmer sein Laptop während des Kongresses allzeit am Mann - wie praktisch alle hier. Zwar kleben an Wänden und Pfeilern bunte Zettel mit Einladungen zu allen möglichen und unmöglichen Gesprächszirkeln, doch funktioniert das Gros der Kommunikation online.

"Lightning Talk" heißt eine viel besuchte Runde in Saal 1. Von einem Moderator begleitet, hat jeder Referent exakt fünf Minuten Zeit, seine Ideen, Pläne oder Geschäftsmodelle zu präsentieren. Es ist eine turbulente Show, bei der auch Paradiesvögel, Exzentriker und hochintelligente Querdenker Hochkonjunktur haben. Gut 100 Vorträge und noch mehr Fachkreise locken die 5000 Gäste aus gut 60 Ländern und sorgen auf den vier Etagen für ein Gewusel wie im Bienenstock. Gebot der Tagung: möglichst cool und entspannt zu wirken und es möglichst auch zu sein.

Das Herz des Kongresses pulsiert im "Hack Center" - in einem abgedunkelten Großraum, rund um die Uhr. An runden Tischen sitzen überwiegend schwarz gekleidete Freaks und tüfteln. So und so. Die einen löten Platinen oder basteln kleine Helikopter, die computergesteuert und autonom fliegen können. Es sind Daniel Düsentriebs der Neuzeit, Männer wie Christian Bergmann aus Karlsruhe. Sie stammen aus mehreren Ländern und Städten, vereint durch das gemeinsame Ziel, nicht nur Träume fliegen zu lassen.

Andere debattieren im kleinen Kreis Netzwerklösungen, verabreden sich via Twitter oder hocken konzentriert vor ihrem Monitor. Überall liegen Kabelberge, blinken Dioden, surrt und rauscht irgendetwas. Da die Zeit von nur vier Tagen knapp zu sein scheint, fällt die Ernährung ebenso zügig aus wie das Surfen. Fast Food, Chips, Kekse, Magnum-Wasserflaschen oder speziell die "Hacker-Brause" Flora-Power, ein in Hamburg gebrauter Mate-Tee, sind Treibstoff für ungewöhnliche und gelegentlich auch abstruse Gedankenblitze.

Weibliche Hacker treffen sich in männerfreier Zone zum Frühstück. Bei einer Crypto-Party dreht sich alles um Entschlüsselungstechnik. Bei "Light-Theremis" steht eine neuartige elektronische Klangerzeugung im Mittelpunkt. Und wer Lockpicking beherrscht, kann Türschlösser - angeblich - ohne mechanische Hilfsmittel öffnen. Warum auch immer.

Wichtig ist die Vision. Und die politische Einstufung. Mareike Peter, 24, Informationstechnische Assistentin aus Prenzlauer Berg in Berlin, arbeitet halbtags als Sekretärin, um Zeit für persönliches Engagement zu haben. "Ich bin mit Computern und Internet aufgewachsen", sagt die plietsche Frau, "und habe eine Welt ohne Barrieren erfahren."

Diese "Freiheit aus dem Netz" müsse auch im täglichen Leben gelten. Online existieren eben keine Ländergrenzen. Das lässt die Welt näher zusammenrücken. Auch ihr hilft der Kongress, Menschen Aug' in Aug' zu sehen, die man sonst nur anonym aus dem Netz kennt. Wer will, kommt im Nu mit anderen ins Gespräch. In Lounges und an Bars platzierte Sitzecken, Sofas inklusive, chattet die Gemeinde lustvoll. Früher hätte man dazu Klönen gesagt.

Einige Besucher machen bei aller Vitalität und Aufbruchstimmung irgendwann dennoch schlapp, halten an Tischen Nickerchen oder legen sich schlicht in eine Ecke. Jeder lebt nach seinem Gusto.

"Der Umzug von Berlin nach Hamburg hat sich gelohnt", bilanziert Frank Rieger, 41, Sprecher des Chaos Computer Clubs. "Der Kongress war ein voller Erfolg." Die 30. Auflage Ende kommenden Jahres soll erneut in Hamburg steigen. Hier, im Eidelstedter Bürgerhaus, war das Ereignis 1984 gegründet worden.

Nun sind die Hacker heimgekehrt.