In Großstädten sind Glaube und Kirche vielen Menschen fremd geworden. Wie viel Religion steckt da in Hamburgs modernstem Stadtteil?

Die Suche muss ein Missverständnis sein. Auch die Weltdeuter von Google sind mit der Anfrage "HafenCity" und "Gott" überfordert. Bei "Go" macht die Suchmaschine noch Vorschläge: HafenCity und Goldstandard, eine Auszeichnung für Immobilien, das kennt der Algorithmus. Oder HafenCity und Gold, HafenCity und Gourmetkarte - eben Dinge, die die Besucher des neuen Stadtteils im Netz so ansteuern. HafenCity und Gott gehört nicht dazu. Höchste Zeit, sich auf die Suche zu begeben.

Auf den ersten Blick hat Google recht. Eine Kirche überragt den ambitionierten Stadtteil nicht. Als die ersten Planungen für die HafenCity mit immerhin 12.000 Bewohnern Ende der 90er-Jahre am Reißbrett entwickelt wurden, war ein Gotteshaus zwar fest eingeplant. Allein evangelische wie katholische Kirche winkten rasch ab. Sie scheuten die Kosten und wiesen darauf hin, dass es in der Innenstadt längst genug Gotteshäuser für die Menschen gebe: St. Katharinen und der Kleine Michel.

"Die Diskussion um einen Neubau gab es. Sie war aber sehr kurz", sagt Ulrike Murmann, Hauptpastorin von St. Katharinen. "Wir können nicht auf der einen Seite Kirchen schließen und hier eine neue bauen. Zumal St. Katharinen, eines der wertvollsten Gebäude der Stadt, einst für die Menschen am Hafen erbaut wurde." Seit 2004 wurden in der Hansestadt sieben evangelische Kirchen entwidmet - ein schmerzhaftes Schrumpfen folgt den Investitionen früherer Jahre. Vor allem in den 50er-Jahren gab es in Hamburg einen Boom bei Sakralbauten, damals galt in der lutherischen Kirche das Ideal, das jeder Hamburger in 500 Meter Entfernung ein Gotteshaus erreichen kann.

In der HafenCity wird der Gläubige deutlich länger unterwegs sein. Und dann wird er keine Kirche, sondern das "Ökumenische Forum" finden. Das Gotteshaus steht für ein neues Denken, eine neue Bescheidenheit und eine neue Ökumene: Wurden bis Ende der 60er-Jahre noch alle großen Stadtentwicklungsprojekte mit dem Bau neuer Kirchen flankiert, haben sich seitdem die Gotteshäuser geleert, immer weniger Gläubige bekennen sich zu Gott. In Hamburgs modernstem Quartier zählt die evangelische Kirche 360 Gemeindemitglieder - nur rund 18 bis 20 Prozent sind evangelische Christen; hamburgweit ist es noch jeder Dritte.

In der HafenCity kann man also nachspüren, was der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen, Nikolaus Schneider, vor einigen Wochen angeprangert hatte: die Gottvergessenheit in Ostdeutschland und einigen westdeutschen Metropolen. "Gott, Glaube, Kirche sind Teil einer Fremdsprache, mit der manche Menschen genauso viel oder wenig anfangen können wie mit Mandarin oder Kisuaheli."

Eine Einschätzung, die Katharinen-Pastor Frank Engelbrecht teilt. "Für einige sind heute Museen die geistlichen Räume, Einkaufszentren erscheinen als Tempel des Konsums und Wolkenkratzer überragen die Kirchen." Längst gönnen sich die Städte neue Paläste des Bürgerstolzes, sündhaft teure Wahrzeichen des Übermuts: Die Elbphilharmonie wird mit ihren 110 Metern fast so hoch wie der Turm von St. Katharinen, dafür um einiges teurer sein. Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter brachte es auf den Punkt: "Die Elbphilharmonie ist das Schlüsselbauwerk für den Stadtteil, die ,Kathedrale'. Bei der letzten großen Stadterweiterung von der Altstadt zur Neustadt haben die Hamburger den Michel gebaut, heute bauen sie ein Konzerthaus." Gut möglich, dass die Elbphilharmonie eines fernen Tages sogar den Michel als Wahrzeichen verdrängt.

Murmann kennt den Vergleich und lacht: "Die werden sich noch wundern." Eine Kathedrale sei die Philharmonie vielleicht beim Brahms-Requiem. Aber sonst? Da ist ihr St. Katharinen lieber, die Kirche, die im Eingangsbereich eine Inschrift aus dem Hebräer-Brief ziert: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir."Gerade erst hat sich das Gotteshaus aus dem 13. Jahrhundert herausgeputzt; rund zehn Millionen der 23 Millionen Euro teuren Sanierung spendeten Unternehmen, Stiftungen und Bürger.St. Katharinen wächst im Süden ein Teil des Gemeindegebietes zu, das ihr beim Bau des Speicherstadt am Ende des 19. Jahrhunderts verloren ging. Für die Kirche ist die HafenCity damit Wiedervereinigung und Neuland zugleich.

So wie der Stadtteil neu besiedelt wird, soll dort auch der Glaube Raum greifen. "Es geht darum, den Glauben in eine säkulare Welt zu tragen", sagt Murmann.

Die HafenCity macht einen eher weltlichen Eindruck. Allenfalls Rudimente einer christlichen Tradition fallen dem Bummler in diesen Dezembertagen ins Auge. An der Osakaallee hängen Lichterketten in den laublosen Bäumen; der Weihnachtsmarkt am Überseeboulevard kommt arg modern daher: Disco statt Bach, Glühwein statt Erbauung. Jedenfalls zieren ihn Lichtspiele, die mit viel Fantasie an Engelsflügel erinnern. Der Nikolaus hat dem eher tristen Weihnachtsmarkt im Herzen der HafenCity einen Besuch abgestattet. Dafür ist der Weihnachtsmann, diese coca-colaeske Karikatur des Bischofs Nikolaus aus Kleinasien, in der HafenCity besonders modern unterwegs: Er benötigt keinen Schlitten, sondern fährt cool mit dem Segway, einem Elektroroller, vor. Er bringt auch keine milden Gaben mit, sondern wirbt für "Mindways Segway Citytour", das "ideale Weihnachtsgeschenk".

Gott ist tot, es lebe der Mammon, mag man denken - angesichts tiefer Baugruben, hoher Renditen und einer raumgreifenden Leere.

"Der Individualisierungsgrad ist hoch in der HafenCity. Gemeinschaftliche Strukturen sind noch im Aufbau", sagt Engelbrecht. Zugleich sei in dem Stadtteil aber auch die "Sehnsucht nach einer neuen Welt" besonders greifbar. "Viele, die hierherziehen, lassen etwas hinter sich und wagen etwas Neues." Aus selbstbewusstem Individualismus entstehe auch starkes gemeinschaftliches Handeln, etwa im HafenCity Netzwerk in Schule und Kita, in Baugemeinschaften oder dem Sportverein. "Das ist nicht unbedingt ein besonders kirchliches Milieu, aber ein Stadtteil mit religiöser Musik", sagt Murmann.

St. Katharinen will hier ein Verstärker sein. Kirche fängt in der HafenCity bei null an - bei null Jahren, den Kleinsten der Kleinen. Die erste Kindertagesstätte des Quartiers, die St.-Katharinen-Kita, befindet sich in der Trägerschaft der Diakonie, mit der ersten Grundschule - auch sie nach Katharinen benannt - besteht eine enge Zusammenarbeit, etwa in der Nachmittagsbetreuung. "Fast jedes Kind im Viertel ist in der Jugendkantorei", sagt Engelbrecht. Und mit den Kindern kommen die Eltern, erleben Kirche selbst manchmal zum ersten Mal. Die Gottvergessenheit gründet tief. Der EKD-Ratsvorsitzende Schneider spricht von einer Unkenntnis Gottes in "zweiter und dritter Generation". Es gibt nicht Wenige, die halten Golgatha für eine Versicherung, Halleluja für eine Disco und das goldene Kalb für einen Fernsehpreis.

Murmann und Engelbrecht wollen die Menschen einladen, die Kirche öffnen, die Kirchen auch einmal verlassen. "Wir müssen unseren Schatz mit mehr Selbstbewusstsein zeigen. Unsere Lieder, Gebete, Gebäude, unsere Wertvorstellungen sind etwas Wertvolles", sagt Murmann. Im Quartier bedeutet das: Bei Grundsteinlegungen oder bei Problemen im Viertel mischt sich Katharinen ein und widmet wenn nötig kurzerhand eine Brache gegenüber des Sumatra-Hauses in einen Fußballplatz um.

Gleich um die Ecke, an der Shanghaiallee, haben 19 Hamburger Kirchen - Katholiken und Baptisten, Lutheraner und Methodisten - etwas Unglaubliches im Glauben gewagt: Sie haben einen Ort der Ökumene geschaffen, "der die Menschen an Gottes Gegenwart erinnert". Das Gebäude bricht mit der Tradition vieler Sakralbauten: Es macht sich selbst klein, fast unscheinbar. Ein Architekturkritiker lästerte über den "Geist einer fast erschlagenden Nüchternheit", den "Sarkasmus der Alltäglichkeit". Man könnte das Forum übersehen, weil es sich unspektakulär in die Zweckbauten der Moderne einreiht. Doch jeden Werktag läutet von der Fassade herunter die 630 Kilo schwere Bronzeglocke aus Maria Laach zum 15-minütigen Mittags- oder Abendgebet. Ein seltsamer Klang zwischen dem Baulärm, ein Läuten gegen die Geschäftigkeit; ein einsamer Ruf in der Wüste?

"Hier finden Sie einen Raum, an dem die Begegnung mit Gott möglich wird", beschreibt Pastorin Antje Heider-Rottwilm das Ziel des Forums. Sie selbst lebt im Haus, das für Familien, Alleinstehende, Studenten und Rentner zur Hausgemeinschaft geworden ist. Hier kommen 50 Menschen aus verschiedenen Konfessionen, Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen zusammen - und versuchen eine christliche Utopie zu leben.

Sie arbeiten an einen umweltverträglichen Lebensstil, mischen sich in Gesellschaft und Stadtteil ein, versuchen ein gottgefälliges Leben. Ihr Treffpunkt ist das Cafe ElbeFaire im Erdgeschoss - und die Kapelle mit ihren 24 Plätzen.

Die Einrichtung des Gebetsraums ist maximal schlicht: ein Kreuz, ein Altar, ein Pult. Versetzt übereinander getürmte Ziegelsteine gestalten den Raum. In der Ecke liegt ein Gästebuch, in das Besucher in Deutsch, Englisch und Spanisch die Stadt, die Kapelle oder Gott preisen. Häufig kommen neben den Hausbewohnern Gäste zu den Andachten, Touristen, Geschäftsleute, Arbeiter. "Einmal traf ich hier einen Polier, der nach dem Mittagsgebet sitzen blieb", sagt Heider-Rottwilm. "Er erzählte mir: 'Direkt neben mir ist vorhin ein Betonträger heruntergefallen. Heute habe ich mein Leben neu geschenkt bekommen.'"

Der Blick schweift auf die Masse der Ziegelsteine, die den Raum einfrieden. Auf einem Ziegel brennt ein einsames Teelicht. Ein Licht der Hoffnung in einer Welt aus Stein.