Fußball-Eltern pöbeln an der Linie, Schüler bedrohen ihre Lehrer, Polizisten werden beschimpft, bespuckt, getreten. Autorität geht verloren.

Hamburg. Der Abseitspfiff kostete ihn das Leben. Mehrere 15- und 16-jährige Jugendfußballer traten und prügelten am Sonntag nach einem Spiel in Almere bei Amsterdam so auf einen Linienrichter ein, dass der Mann im Krankenhaus seinen Hirnverletzungen erlag. In ihrer Brutalität und ihren tödlichen Folgen bleibt die Attacke auf den dreifachen Familienvater ein krasser Einzelfall. Doch zugleich wirft sie ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, in der Aggression und Respektlosigkeit um sich greifen. Ob Schiedsrichter, Lehrer oder Polizeibeamte, sie alle berichten von Pöbeleien, Übergriffen, Attacken. Vermeintliche Respektspersonen werden zum Lieblingsziel einer kleinen, aber brutalen Minderheit. "Dieses Phänomen spitzt sich zu", sagt Professor Klaus Hurrelmann, Jugendforscher und Sozialwissenschaftler an der Hertie School of Governance, im Gespräch mit dem Abendblatt. Rund zehn bis 20 Prozent der Jugendlichen seien heute auffällig. "Sie sind nicht mehr geworden, aber radikaler in ihrer Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft. Sie verletzen fundamentale Regeln des gesellschaftlichen Anstandes."

Amateur-Schiedsrichter berichten (siehe Interview) längst von einer Ausweitung der Kampfzone auf den Fußballplätzen. Die Ehrenamtler, die früher nur harmlose Schmähgesänge wie "Schiedsrichter ans Telefon" fürchten mussten, bekommen nun eine explosive Mischung aus verbaler und tätlicher Gewalt ab. Und alle mischen mit: Spieler, Trainer und Fans. Schon in den Jugendligen gerieren sich einige Eltern, als gelte auf dem Rasen das Gesetz des Dschungels, als gehe es nicht um Punkte, sondern ums Überleben. "14-jährige Schiedsrichter, die in der F-Jugend ihre ersten Spiele leiten, müssen sich von Eltern an der Seitenlinie teilweise sehr aggressive Kommentare gefallen lassen. Da geht es schon los", sagt Ralph Vollmers, Hamburger Schiedsrichter des Jahres.

Ausgerechnet die "Spieler" wenden sich in dem "Sport" gegen die Autorität, die Fußball erst möglich macht - den Schiedsrichter. Mit Blick auf Holland sagt Vollmers: "Bei der Welle, die momentan im Gange ist, musste es irgendwann so enden." Auch Jugendforscher Hurrelmann nimmt einen wachsenden Wettbewerb im Sport wahr. "Es geht nicht mehr um Spaß, sondern um Kampf", kritisiert er. Diese falsche Wahrnehmung reiche bis in überehrgeizige Mittelschichtsfamilien hinein.

Der Fußballplatz ist dabei nur ein Tatort. Autoritäten büßen überall ihre Autorität ein. Besonders Polizisten leiden unter der respektlosen Gesellschaft. Es wird "beleidigt, bespuckt, bedroht, geschlagen, getreten und mit dem Kopf gestoßen", kritisierte unlängst Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). In Hamburg, diese Zahlen wurden erst in dieser Woche publik, werden jeden Tag drei Polizisten angegriffen. Selbst Feuerwehrleute und Rettungssanitäter sind vor Attacken nicht mehr sicher. Sie alle kritisieren, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Respekt verloren gegangen ist. Joachim Lenders, Hamburger Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, beklagt den Autoritätsverlust seit Langem und hat ihn am eigenen Leib erfahren. "Ich bin seit über 32 Jahren Polizist, auch ich habe auf dem Kiez Dienst gemacht", sagt er. "Da hat sich vieles deutlich verändert. Früher galt das Wort des Polizisten noch etwas." Vorbei.

Auch Lehrer erzählen unglaubliche Geschichten. Sie berichten von Schülern, die Pädagogen beschimpfen und bespucken, von Eltern, die Lehrern auflauern und sie bedrohen. Vor sechs Jahren lenkte ein offener Brief von Lehrern der Berliner Rütli-Schule den Blick auf die Realitäten an einigen Schulen im Lande: Die Pädagogen beschrieben eine Stimmung, die "geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen." Sie verweisen auf Aussagen eines Schülers, wonach es als besondere Anerkennung im Kiez gilt, "wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen".

Es war ein Hilferuf. Die Vorkommnisse an der Rütli-Schule mögen besonders krass gewesen sein; ein Einzelfall aber, zu denen sie schnell reduziert wurden, waren sie nicht. Rütli, das ist nicht nur in Berlin-Neukölln Realität, sondern steht als Mahnmal für eine Gesellschaft, der der Respekt abhanden kommt. Und die aus falsch verstandener Toleranz Grundregeln des Zusammenlebens nicht mehr einfordert.

Auch auf den Hamburger Pausenhöfen geht es nicht zu wie in Bullerbü. Hier hat sich die Gewalt im vergangenen Schuljahr erhöht. 973 Fälle, 90 mehr als im Vorjahr, meldeten die knapp 900 Schulen der Stadt an die Behörde. Für die Opposition ein klarer Beleg für einen Negativtrend, für die Schulbehörde nur ein statistischer Effekt aufgrund eines veränderten Meldebewusstsein. Vermutlich haben beide recht.

Auch andere Städte berichten von einer Eskalation: In Berlin hat sich binnen weniger Jahre die Gewalt gegen Grundschullehrer (!) vervierfacht. Lehrer sind nicht nur Opfer von Prügel, sie sind auch Prügelknabe der Nation. Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der Mann mit dem Gespür für das Bauchgefühl der Masse, nannte Lehrer einst "faule Säcke", in den Medien changieren Pädagogen als skurrile Personen zwischen Kasper und Seppl - und viele Eltern machen für ihr Erziehungsversagen die Lehrer verantwortlich. Während vor zwei Generationen Kinder wegen einer Strafarbeit Prügel von den Eltern bekamen, müssen heute deshalb die Lehrer Prügel von den Eltern fürchten.

Der Autoritätsverlust hat längst alle Ebenen erfasst - und dazu haben die Eliten mächtig beigetragen. Seit der Finanzkrise gelten Banker eher als Gangster, der ehemalige Bundespräsident missinterpretierte sein Amt als oberstes Schnäppchenportal, Kirche und der Glaube haben an Autorität durch eigenes Fehlverhalten und den Glaubensverlust der Menschen eingebüßt. Parteien und Gesellschaften leiden an Schwindsucht und wollen sich überall beliebt machen. Wo Normen kaum mehr gesetzt werden, werden Regeln rasch zu Petitessen. Oder sie werden kurzerhand selbst definiert. Mit fatalen Folgen: Jeder fünfte Polizist in Hamburg sieht in Respektlosigkeit und Autoritätsverlust die Vorstufe zur Gewalt.

Respekt ist auf dem Rückzug. Und wenn das Wort fällt, dann oftmals in einer Umdeutung des Wortsinns. Bizarrerweise beanspruchen viele desintegrierte Jugendliche "Respekt" für rücksichtsloses Benehmen. Und ausgerechnet Rapper, die gern Gewalt verherrlichen und Andersdenkende in ihren Texten ausgrenzen, fordern ständig Respekt ein. Respekt wird hier zu einem Synonym für Unterwerfung.

Zuwanderer werden als Gewalttäter überdurchschnittlich auffällig. Hurrelmann, der die Shell-Jugendstudien leitet, sieht ihren Anteil bei rund der Hälfte. Wer sich ausgegrenzt fühlt, wird leichter militant. "Sie leben eine Gegenkultur, weil sie merken, dass sie abgehängt sind", konstatiert der Wissenschaftler Hurrelmann.

Doch es wäre falsch, mangelnden Respekt an der Herkunft festzumachen. Respektlosigkeit hat keine Hautfarbe oder Religion, sondern spiegelt Gesellschaft, sie wächst in schwierigen Milieus. Die Risikofaktoren - schwieriges Elternhaus, Bildungsversagen, exzessiver Medienkonsum - kommen bei Migranten wie bei Deutschen vor.

Ein begrenztes Maß an Autoritätszweifel und Respektlosigkeit ist durchaus normal: Jugendliche haben zu allen Zeiten nicht immer gewusst, was sie tun. Sie brechen Gesetze und testen tradierte Normen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Auch heute gilt: Es ist eine kleine Minderheit, die auffällig wird. Doch ihre Radikalität und Aggressivität nimmt zu. Gerade deshalb werden Vorbilder benötigt. "Wir dürfen unsere Werte nicht aufgeben, sondern müssen sie konsequent leben", sagt Hurrelmann. Daran hapert es. Heute benehmen sich auch viele Erwachsene wie in den Flegeljahren. Um im Bild zu bleiben: Sie beschimpfen Schiedsrichter wegen einer Gelben Karte, Lehrer wegen schlechter Noten für die Kinder, Polizisten wegen eines Strafzettels. Schuld sind immer die anderen, man fühlt sich ungerecht behandelt.

Respekt aber sollte man nicht nur für sich einfordern, sondern anderen entgegenbringen. In der Schule, auf der Straße, auf dem Fußballplatz - überall.