Ihr Schlingerkurs gibt der CDU-Chefin Macht - doch sie nutzt sie zu wenig

Für Angela Merkel ist es ein Traumergebnis: Mit fast 98 Prozent der Stimmen ist die Bundeskanzlerin gestern für zwei weitere Jahre zur CDU-Chefin gekürt worden. 98 Prozent! Ein Wert, der in demokratischen Systemen selten ist.

Und doch ist es ein Ergebnis, das zu Angela Merkel passt. Die 58-Jährige ist auf dem Zenit ihrer Macht angelangt, sie ist außenpolitisch zur eifrigen Miss Europa avanciert, schwebt innenpolitisch über dem Dauerstreit in der schwarz-gelben Koalition und ist bei den Bürgern beliebt. Sie macht, so nimmt es eine Mehrheit der Deutschen wahr, ihre Sache ziemlich gut. Die allermeisten CDU-Delegierten haben ihr dies auf dem Hannoveraner Parteitag mit ihrer Stimme gedankt.

Dank Merkels Image sind auch die Umfragewerte ihrer Partei weiter hoch. Unterstützt wird das einerseits durch die anhaltende Schwäche der SPD. Andererseits ist es aber auch Resultat cleveren taktischen Kalküls, durch das die CDU in einer Zeit Volkspartei bleibt, in der es Volksparteien durch den gesellschaftlichen Wandel schwer haben. Gemeint ist die von Merkel auf den Weg gebrachte Entideologisierung, die die Opposition gern als "Entkernung" kritisiert. Ja, es stimmt: Der konservative Markenkern der CDU ist nur noch in Ansätzen vorhanden, auf der anderen Seite gibt es einen nur halbherzigen Modernisierungskurs. Wer danach fragt, wofür die CDU heute steht, muss lange nach einer Antwort suchen, denn die CDU steht überall ein bisschen. Eine Schwäche ist dies allerdings nicht - sondern die wohlkalkulierte, Macht bringende Stärke der Merkel-Partei. Der Opposition, die sich erfolglos an ihr abarbeitet, ist das schmerzlich bewusst: Wo ein Profil abgeflacht und Kanten abgeschliffen werden, gibt es weniger Angriffsfläche.

Solange sich die CDU also nicht festlegt, kann sie in vielen Milieus Stimmen fischen. Damit sich in Sachen Modernität etwas tut, lässt Merkel etwa ihre Arbeitsministerin Ursula von der Leyen laut über eine gesetzliche Frauenquote nachdenken und den Kita-Ausbau loben - gleichzeitig ist ein Quotengesetz in weiter Ferne, dafür aber wird das Betreuungsgeld verabschiedet. So kann der konservative Stammwähler trotz aller progressiver Rhetorik beruhigt sein.

Praktisch für die Kanzlerin: Sowohl Kernanhänger als auch Modernisierer können ihr politisches Zuhause in der CDU finden. Wie die Umfragewerte zeigen, ist dies aus machttaktischer Sicht in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft offenbar die richtige Strategie zur richtigen Zeit. Denn nur wer Macht hat, kann regieren. Und nur wer regiert, der gestaltet auch. Ideologietreue mag eine gewisse Tugend sein - helfen tut sie einer Partei heute aber nicht, wenn sie Politik machen will.

An dieser Stelle wird die Taktik der Kanzlerin aber zum Problem. Der Schlingerkurs zwischen modern und konservativ bringt ihr zwar Macht zur Gestaltung - nutzen tut Merkel diese aber wenig. Bahnbrechende Entscheidungen hat es in der aktuellen Legislaturperiode kaum gegeben, selbst auf dem Parteitag in Hannover wurden Konflikte im Vorfeld ausgebügelt oder wie jener um die steuerliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare auf den Abend verschoben, wenn die Delegierten müde sind.

Sosehr Merkel ihre Macht als Euro-Retterin zu nutzen in der Lage ist, so sehr droht diese innenpolitisch zum Selbstzweck zu werden. So etwas schafft auf Dauer Frustpotenzial bei den Bürgern, das sich bereits in mehreren Landtagswahlen entladen hat. Bis zur Bundestagswahl ist es noch zehn Monate hin. Bis dahin sollte die Kanzlerin das tun, was man sonst ihrem Vizekanzler, dem FDP-Chef Philipp Rösler, rät: Sie sollte liefern.