Erdverwachsen und etwas stur: Einmal im Jahr lässt man hier die Sau raus. Der Stadtteil zwischen Autobahn und Elbe.

Die Sonne scheint auf üppiges Grün und spiegelt sich in der Dove Elbe, die ruhig hinterm Deich dahinfließt. Ein Idyll, wie geschaffen zum Durchlüften der geplagten Großstadtseele. Kein Kitsch, sondern reiner Zauber: Da zwitschern Vögel unentwegt, da wiegen sich Bäume und Gräser sanft im Wind, während über den Elbeseitenarm kleine Boote schippern. Die Ruhe bestimmt hier den Takt, Schönheit macht die Melodie.

Draußen und doch mittendrin in der Stadt - das ist Allermöhe. Ein lang gestrecktes Marschendorf, das sich malerisch an den Deich schmiegt, zwischen Autobahn 25 und Dove Elbe. Kleine reetgedeckte Bauernkaten und prachtvolle Gutshöfe säumen den Deich, zwei Baggerseen laden ein zum träumerischen Verweilen.

Erdverwachsen und etwas stur

Am Allermöher Deich, einer der ganz wenigen Straßen in diesem Stadtteil, lebt in einem Rotklinkerbau aus den 60er-Jahren Herbert Witt. Aufgewachsen ist der Ingenieur im Ruhestand, 85, im Elternhaus gleich nebenan. Er hat miterlebt, wie die Sturmflut 1962 Wasser bis an seine Grundstücksgrenze spülte. Witt und seine Frau Edith kamen wie viele andere Allermöher damals glimpflich davon. Der Grund: Das Dorf war nach einer Sturmflut im späten 12. Jahrhundert an höherer Stelle neu angelegt worden - und ist seitdem vor Hochwasser besser geschützt als die übrigen Marschendörfer.

Wohl kaum jemand weiß mehr über Allermöhe zu berichten als Herbert Witt, der viele Jahre für das Gemeindeblatt plattdeutsche Artikel verfasst, den ersten (und einzigen) Gesangsverein im Ort gegründet hat und noch heute auf Anfrage durch die Dorfkirche führt. Erdverwachsen, stur und Fremden gegenüber eher zurückhaltend, so beschreibt der Senior den typischen Allermöher. Gute Karten hat, wer Platt schnacken kann, zumal unter Alteingesessenen das Sprechen der Mundart noch zum guten Ton gehört. Es stärkt das Wir-Gefühl und grenzt die Verwurzelten von den Zugezogenen ab - nicht jeder, der neu ist im alten Allermöhe, kommt damit zurecht. Es ist wohl so, wie Witt es sagt: "Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel."

Das machen sie seit Jahrhunderten so: füreinander einstehen. Wie die meisten anderen Dorfbewohner in den Vier- und Marschlanden waren auch die Allermöher in früheren Zeiten praktisch abgeschnitten von der Außenwelt. Das Leben war hart und entbehrungsreich, Gemüsebauern, die ihre Erzeugnisse - Grün- und Weißkohl sowie Blumen - auf dem Hauptmarkt an der Hamburger Nikolaikirche feilbieten wollten, mussten eine zweitägige Reise im Ewer über die Dove Elbe einplanen. Das änderte sich erst, als die Deiche 1890 gepflastert wurden und die Marktbeschicker ihre Waren mit dem Pferdegespann in die große Stadt schaffen konnten.

Ein Hotel - immerhin!

Auf diesem historischen Pfad - dem Allermöher Deich - geht es hoch, Richtung Bergedorf. Links und rechts nur Gutshöfe und Idylle. Und dann doch: eine Schankwirtschaft! Das Restaurant/ Hotel Am Deich liegt etwas versteckt in einer Seitenstraße, schräg gegenüber der Allermöher Werft. Eines der beiden Hotels im Ort wird von der Familie Hacker betrieben. Vor allem auswärtige Handwerker, die während der Woche im angrenzenden Gewerbegebiet arbeiten, mieten sich hier oder in den zahlreichen, von privater Hand angebotenen Fremdenzimmern ein. Dass fast nur sie, aber kaum Einheimische Geld in der dem Hotel angeschlossenen Schankwirtschaft lassen, wurmt dann doch ein wenig. "Die Allermöher lassen sich hier kaum mal blicken", sagt Gastronomin Dörte-Manuela Hacker.

So ist das eben: In Allermöhe wird mehr gewohnt als gelebt, es gibt gerade mal zwei gastronomische Betriebe, eine Kirchengemeinde, die auch noch für den benachbarten Stadtteil Reitbrook zuständig ist, den Verein Liedertafel Frohsinn (mit Theatergruppe) und eine Freiwillige Feuerwehr, die mit Nachwuchssorgen zu kämpfen hat. Unter infrastrukturellen Gesichtspunkten ist das Quartier eine mittlere Katastrophe. Es fehlen ein Bäcker, ein Friseur, ein Supermarkt. Noch nicht einmal einen Krämerladen gibt es. Wer kein Auto sein Eigen nennt und auf den stündlich durchs Dorf zuckelnden Bus warten muss, ist in der schläfrigen Schönheit Allermöhe arm dran.

Abgesehen vom Gewerbegebiet im Norden Allermöhes mit seiner Vielzahl von Speditionen ist die Wirtschaft am Deich überschaubar: Es gibt sie noch immer, die Landwirte und Kleinbauern, die ihre Felder bestellen oder in weitläufigen Gewächshäuser-Ensembles Tomaten und anderes Gemüse züchten. Neben einer gut gehenden Fassadenbau-Firma befindet sich unweit des Nettelnburger Landwegs die Allermöher Werft. Einst das Aushängeschild des Marschendorfes - bis in die 80er-Jahre hinein wurden hier Boote gebaut -, dient die Werft heute vor allem als Liegeplatz für kleinere Yachten und Hausboote.

Nickende Pumpen fördern Öl

Kaum zu glauben, aber wahr: Der fein- bis mittelsandige Allermöher Untergrund birgt wertvolle Bodenschätze. Seit den 1910er- und 1920er-Jahren werden hier Erdgas und Erdöl gefördert, davon zeugen noch heute die in Allermöhe und dem benachbarten Stadtteil Reitbrook sichtbaren, nickenden Förderpumpen. Unter den Stadtteilen befindet sich ein riesiger Erdgasspeicher, in dem Gas aus dem Ems-Dollart-Gebiet und Russland eingelagert wird.

Bei aller ländlichen Abgeschiedenheit schnuppert Allermöhe ab und an aber den Geruch der großen weiten Welt - und das verdankt es vor allem dem Wassersportzentrum im Süden. Nach dem Umbau der zwei Kilometer langen Regattastrecke für 2,9 Millionen Euro - inklusive Neubau eines Zielturms - ist das Zentrum für die Ausrichtung hochklassiger Ruder- und Drachenboot-Events bestens gerüstet.

Doch das wahre Herz des Stadtteils schlägt wenige Meter entfernt, am Allermöher Deich 97: Hier steht die herrliche Dreieinigkeitskirche zu Allermöhe-Reitbrook, die 2014 ihren 400. Geburtstag feiert.

Rockfestival am Eichbaumsee

Von seiner schönsten Seite zeigt sich Allermöhe bei einer Bootstour auf der Dove Elbe - leider hat die Bootsvermietung Paddeleih bereits im Jahr 2010 ihren Betrieb eingestellt. Unzweifelhaft punktet das Kleinod im Südosten Hamburgs mit seinem Ausflugswert: Zwei Baggerseen, der See Hinterm Horn und der Eichbaumsee, locken vor allem Städter am Wochenende massenhaft nach Allermöhe.

Kleiner Wermutstropfen: Im 1976 entstandenen Eichbaumsee, aus dem immer wieder tote Fische gezogen werden, darf nicht gebadet werden, das Gewässer ist stark mit giftigen Blaualgen belastet und wird noch immer saniert. Dafür geht dort einmal im Jahr richtig die Post ab, wenn Rock-Bands beim Umsonst-und-draußen-Festival "Wutzrock" (Markenzeichen: ein Schwein) das beschauliche Marschendorf zum Beben bringen. Und danach kehrt wieder Ruhe ein in diesem Paradies. Und das ist auch gut so.

In der nächsten Folge am 3.12.: Hohenfelde

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