Sonderfahrt zum Hochbahn-Jubiläum mit Fahrgästen, die genauso alt sind, wie die U-Bahn. Sie verrieten, wie man gesund und glücklich bleibt.

Neustadt. Es sind 15 Hundertjährige, die um 14 Uhr an der Haltestelle Jungfernstieg am Gleis 5 in den Traditionszug der Hochbahn steigen und im Dunkel des Tunnels verschwinden. Es ist der Beginn einer kleinen Rund- und Zeitreise: Zunächst geht es mit den 99 Jahre alten U-Bahn-Waggons auf der ursprünglichen Ringlinie über Barmbek zurück zum Jungfernstieg; dann soll die Seniorengesellschaft nebst Begleitung gesammelt umsteigen und noch einen kleinen Abstecher mit der neuen Hochbahn-Fahrzeuggeneration, dem DT 5, in die HafenCity machen.

"Wir finden, unsere Idee, am Premierentag der U 4 auch mehrere Hundertjährige auf 100 Jahre Hochbahn treffen zu lassen, ist ein schöner und würdiger Abschluss für ein insgesamt tolles Jubiläumsjahr", sagt Hochbahn-Personalvorstand Ulrike Riedel, als der Traditionszug auf die steile Rampe zum Rödingsmarkt heraufrumpelt, um die vielleicht "schönste Hochbahnteilstrecke der Welt" entlang der Hafenkante in Angriff zu nehmen. "So schließt sich ein Kreis", sagt Ulrike Riedel versonnen.

Die Stimmung im Traditionszug ist kurz nach der Abfahrt noch ein wenig verhalten, die hochbetagten Senioren müssen sich erst einmal ein bisschen auf ihren Plätzen einrichten, und die mitreisenden Männer von der Hochbahnwache sind damit beschäftigt, das halbe Dutzend Rollatoren vorm Wegrollen zu sichern. "Das ist doch mal eine schöne Abwechslung vom Alltag", sagt die 101 Jahre alte Gertrud Märcel aus Wandsbek, die von 1948 bis 1962 selbst bei der Hochbahn gearbeitet hat, erst als Wagenwäscherin, später als Betriebsrätin. "Mich kennt bei der Hochbahn jeder aber nur als Trudel!", sagt sie und wirkt dabei aufgeräumt - und munterer als der 101 Jahre alte Wilhelm Christen, ein ehemaliger Druckereifachmann, der in einem Rollstuhl neben dem kleinen Führerstand sitzt und auf die Strecke vor ihm starrt. "Das täuscht aber", sagt seine Schwiegertochter Marion und schließt ihn an sein transportables Sauerstoffgerät an: "Stufe 2, Willy?!" Wilhelm Christen nickt, seine Stimme ist ein bisschen eingerostet. Normalerweise mache er ja um diese Zeit Mittagsschlaf, sagt seine Schwiegertochter, aber er freue sich auf die Fahrt, auch auf die ganz neue Bahn, und "der alte Zug hier wird ihn schon wach rütteln".

Es ist eine besondere Fracht, die der Traditionszug der Hochbahn an diesem Nachmittag - dem Tag der Jungfernfahrt der neuen U 4 - befördert; 15 von geschätzten 10 000 Menschen in Deutschland, die zu Kaisers Zeiten geboren wurden, bereits 100 und mehr Jahre leben und damit unbestritten als etwas ganz Besonderes gelten, auch wenn die Lebenserwartung der Deutschen kontinuierlich steigt. Und nach den neuesten Berechnungen des Ökonomen Eckart Bomsdorf von der Universität Köln könnten sogar gut zehn Prozent der heutigen 82 Millionen Einwohner Deutschlands die magischen "100" erreichen; 5,3 Millionen Frauen und 2,8 Millionen Männer. Von möglichen Zu- und Auswanderungen abgesehen, dürften von den Bürgern, die heute älter als 50 sind, rund zwei Millionen dieses Alter erreichen, von den unter 50-Jährigen sogar sechs Millionen.

Und so steht auf dieser Hochbahn-Jubiläums-Jungfern-Geburtstagsfahrt plötzlich gar nicht mehr so sehr die neue Linie U 4 im Fokus, sondern die Frage, wie man so alt werden kann - und ob das überhaupt Spaß macht.

Die älteste Passagierin ist die 103 Jahre alte Martha Betge, die in Itzehoe geboren wurde und heute in einem Hamburger Seniorenheim lebt. "Ich habe zwei Weltkriege miterlebt und deshalb über viele Jahre immer nur sehr wenig zu Essen gehabt", antwortet sie auf die Frage, wie sie ihr hohes Alter erklären würde. "Und dieses Genügsame habe ich dann weitergelebt." Allerdings liege das Altwerden auch in ihrer Familie begründet. "Bis auf einen von uns habe es alle meine Geschwister knapp bis zur 100 geschafft."

Auch der ehemalige Testpilot und Luftfahrtingenieur Erich Steffen, der heute alleine in seiner Bergedorfer Wohnung lebt - seine Frau starb im Mai - hat nie zur Völlerei geneigt. "Ich habe immer sehr wenig gegessen und mich viel bewegt", sagt der stattliche, schlanke Mann, der bis heute kein einziges Medikament nimmt.

Genügsamkeit, Disziplin, ausreichend Bewegung, innere Gelassenheit. Fast könnte dies zum Standardrezept des Altwerdens taugen: Denn die überwiegende Zahl der 15 mitreisenden Hundertjährigen erzählt, dass sie alle ein wenig ausschweifendes Leben geführt haben, nicht (oder nur sehr wenig) geraucht und Alkohol getrunken haben; und fast alle waren (und sind) bis heute im Rahmen ihrer Möglichkeit sportlich aktiv, einige sogar noch immer, auch im Sportverein wie Gertrud Märcel: "Bis zum vergangenen Jahr habe ich noch als Übungsleiterin in meinem Turnverein Wandsbek 81 die jungen Leute durch die Halle gejagt!", erzählt sie stolz, als der Traditionszug in der Haltestelle Schlump quietschend zum Stehen kommt.

Jetzt gibt es Kaffee und Kuchen, Butterkuchen und Christstollen - und "Trudel", die "alte Sozialdemokratin", freut sich beinahe schon diebisch, als ihr das Hochbahn-Vorstandsmitglied Ulrike Riedel den Kaffee serviert. Dann wird es - nicht nur für "Trudel" - jedoch höchste Zeit, die Örtlichkeiten aufzusuchen. Was die Weiterfahrt des Traditionszugs jedoch geringfügig verzögert - und Wilhelm Christen ganz gelassen sieht. Er ist inzwischen putzmunter, scherzt mit den charmanten Hochbahn-Mitarbeiterinnen und ist mittlerweile bei der fünften Tasse Kaffee.

Gustav Adolf Körner nutzt auch mit 100 Jahren regelmäßig die Bahn. "Zum Einkaufen muss ich immer zwei Stationen fahren - da gibt's nichts Besseres." Dem Senior sei beim letzten Check-up von seinem Arzt allerdings geraten worden, dass er sich gesund ernähren solle. Er winkt ab: "Ach, ich habe immer quer durch den Garten gegessen, zurzeit besonders gerne Grünkohl mit Schweinebacke. Ja, das muss sein", sagt er verschmitzt, während seine Tochter neben ihm mit den Augen rollt. Sein Rezept fürs Altwerden: "Nicht ärgern, nur wundern."

Arthur Seyffert, im dunkelblauen Blazer tipptopp, hatte darauf bestanden, seine Einladung von der Hochbahn per E-Mail zu erhalten. Der Hundertjährige aus Wedel ist an der Pestalozzistraße aufgewachsen und sei schon als kleiner Junge von Barmbek zum Hauptbahnhof mit der Bahn gefahren. "Aber damals fuhr man ja nicht viel. Deshalb war das immer ein besonderes Erlebnis für mich. Heute nutze ich jedoch viel die öffentlichen Verkehrsmittel." Denn eine Tageskarte müsse schließlich auch ausgenutzt werden. "Sport habe ich ja nicht allzu viel gemacht. Mein Hauptsport war der Segelflug", sagt er und deutet mit der Hand auf eine kleine Anstecknadel an seinem Revers mit dem Segelfluglogo. Heute fahre er recht viel Bahn, vor allem wenn er Besuch bekomme. "Ich habe sieben Enkel und fünf Urenkel, und wenn von denen eines mit dem Flugzeug ankommt, lasse ich es mir nicht nehmen, ihn mit der neuen S-Bahn vom Flughafen abzuholen.

Auch für den erst 60-jährigen Kurt Müller aus Bergedorf, Verkehrsmeister bei der Hochbahn, ist es ein ganz besonderer Tag. Nach 34 Jahren sein letzter Tag als Hochbahner. "Irgendwie freue ich mich auf meine Freiheit - aber andererseits vermisse ich schon jetzt meine Kollegen", sagt er, wobei seine Augen verdächtig glitzern. Und wenn er die Leute hier alle so sehe: Natürlich wolle er ebenfalls alt werden: "Deshalb will ich jetzt auch kein Hobby anfangen, denn das wird irgendwann zum Zwang, und dann verbiestert man!"

Als die Reisegesellschaft nach gut eineinhalbstündiger Fahrt in der Haltestelle Jungfernstieg aus dem Traditionszug in die neue Fahrzeuggeneration DT 5 Richtung HafenCity umsteigt, zupft ihn der 100 Jahre alte Erich Steffen an seiner historischen Uniform und sagt: "60 sind Sie? Wissen Sie, da habe ich gerade man erst angefangen, richtig zu leben."