Vier kleine blanke Augenpaare blicken aus vier feinen und bestickten Kissen in unserer Kirche. Es sind Kinderaugen. Die Eltern haben ihre Kinder in unsere Kirche gebracht zur Taufe. Dazu gehört auch die Salbung mit Chrisam, einem kostbaren Öl. Früher wurden damit die Könige und Hohenpriester in die Würde ihres Amtes eingeführt.

Heute salben wir in der Taufe jedes Kind mit dem wertvollen Öl. Der Grund: Jedem Menschen ist unantastbare Würde gegeben - unabhängig davon, was er einmal werden und leisten wird. Die mitfeiernden Geschwisterkinder dürfen das kleine Gefäß mit dem Chrisam halten. Die Täuflinge salbe ich zuerst auf der Stirn, dann an den winzigen Händchen, wo aber doch schon jedes kleine Fältchen an den Fingergelenken eingegraben und ausgebildet ist.

Die unantastbare Würde dieser kleinen Kinder: Meine Gedanken gehen aus dem Kirchenraum hinaus zu den Tagesnachrichten. Immer wieder wird die Würde von Menschen, auch schon Kindern, mit Füßen getreten. Und dennoch halten die Menschen guten Willens daran fest: Jedem steht seine Würde, die Menschenwürde, zu.

Woher, frage ich mich, als ich in die winzigen Gesichter sehe, woher kommt dieses Recht, diese Würde, die auch diese kleinen Menschen so auszeichnen? Weil eine Versammlung es so erklärt hat - oder ein Volk oder auch eine Völkergemeinschaft? Aber die unantastbare Würde eines Menschen kann doch nicht von der Erklärung anderer Menschen abhängen! Menschenrechte werden nicht "zugestanden" - es wird festgestellt, dass sie bestehen. Die Frage bleibt: Woher kommt dieses Recht, diese unverlierbare Würde? Aus der Biologie, einfach aus der Tatsache der Geburt? Aber wie kann ein biologischer Ablauf unantastbare Würde hervorbringen und begründen? Einen gewissen Wert des biologischen "Produkts" kann er vielleicht hervorbringen - aber unantastbare Würde?

Mit Chrisam, dem Zeichen der Würde, gesalbt, habe ich sie jetzt wieder vor Augen - unsere kleinen Täuflinge. Ich kann diese Würde nur verstehen, wenn sie jedem Menschen unmittelbar von Gott zugesprochen ist, so wie das religiöse Zeichen es zum Ausdruck bringt. Ein Babyschrei zerreißt die nachdenkliche Stille in mir. Ein kleiner Junge hat den Mund weit aufgerissen - mittendrin die zitternde Zungenspitze. Immer noch habe ich diesen Schrei im Ohr, als ob er aufmerksam machen wollte: Vergesst die Würde nicht: Sie gilt für alle Kinder, alle Menschen!

PfarrerMies@MariaGruen.de