Erst kam der Schlachter, dann die Mode. Und heute? Ist der Weidenstieg die kleinste, aber feinste Einkaufsstraße Hamburgs

Früher ratterte hier die Straßenbahn durch, heute radeln Mütter mit ihren Kindern übers Kopfsteinpflaster zur Kita "Tobekatzen" - dort, wo in den 70er-Jahren im Café Adler buchstäblich bis zum Umfallen gefeiert wurde. Es ist ruhiger geworden zwischen Eppendorfer Weg und Fruchtallee, nahezu dörflich, sagen die Bewohner dieser besonderen Straße im Herzen von Eimsbüttel. Aber weit davon entfernt, provinziell zu sein. Dafür sorgt die besondere Mischung aus Boutiquen, Restaurants und Handwerk. Sie ist eine beliebte Wohnstraße mit hübschen Altbauten und viel Grün, und sie genießt den Ruf, Hamburgs kleinste und feinste Einkaufsstraße zu sein: der Weidenstieg in Eimsbüttel. Auf 350 Metern tummeln sich hier rund 20 Geschäftstreibende, die mit ihren Nachbarn eine harmonische Beziehung führen. Eine Wohnung zu ergattern ist Glückssache.

Susanne Gröhnke hatte vor etwa sechs Jahren dieses Glück: Die Designerin des Modelabels "Hello" am Weidenstieg 11 zog dorthin, wo sie auch schon seit 16 Jahren arbeitet. "Der Weidenstieg ist über Eimsbüttels Grenzen hinaus bekannt als kleine Shopping-Oase. Hier ist es einfach gemütlicher als in der Innenstadt." Zusammen mit Telsche Braren entwirft Susanne Gröhnke urbane, fair produzierte Mode. Ihre Kleider, Mäntel und Kostüme mit Namen wie Simon, Jeff und Cécile sind in diesem Herbst kräftig orange, türkis oder bordeauxrot. Bei den passenden Accessoires beraten die beiden gern und haben auch gleich die ganze Palette von farblich abgestimmten Strumpfhosen, Taschen und Schals parat. Und wer den ganz großen Schritt wagt, bekommt nebenan bei "Hello Couture" sogar sein Brautkleid auf den Leib geschneidert.

Gleich gegenüber, in der Hausnummer 18, entwirft Goldschmiedin Sonja Markhoff kunstvollen Silberschmuck, natürlich auch Trauringe. Die Designerinnen haben ihre Ringe jedenfalls dort gekauft - Nachbarschaft verpflichtet. Bei "Zinnober" in der Weidenstraße 16 gibt es Antikes und Dekoratives für die Küche. Hier kauft Susanne Gröhnke gern ihren Tee. In der "Speisekammer" einige Häuser weiter neben "Hello" essen die beiden oft zu Mittag. In der Woche teilt man sich mit Kinderwagen-Mamis aus der gegenüberliegenden Hebammenpraxis die wenigen begehrten Plätze, am Wochenende geht man hier frühstücken, bevor die Geschäfte im Weidenstieg oder Eppendorfer Weg unsicher gemacht werden. Am Sonnabend haben viele Läden bis 19 Uhr geöffnet - von einer beschaulichen Wohngegend ist dann auch im Weidenstieg kaum noch etwas zu spüren. Zugpferd für die Entwicklung von der kleinen gemütlichen Wohnstraße zur beliebten Einkaufsmeile war und ist die Fleischerei Jacob.

Seit 1950 am Weidenstieg 15, sorgt der Familienbetrieb stetig für Laufkundschaft. Jan Petersdorf, Mitinhaber der benachbarten Boutique Angelo`s, erinnert sich: "Gerd Schafft gründete 1989 diesen Laden am Weidenstieg, weil er im hinteren Teil seine Wohnung hatte. Wir waren somit das erste Modegeschäft in der Straße. Eine Laufgegend war das nicht gerade." Profitiert hätten sie damals schon von den Kunden der Fleischerei, da sei immer schon eine Menge los gewesen. Petersdorf revanchiert sich, indem er sein Fleisch natürlich bei "Jacob" kauft. "Heute ist die Gegend beliebt zum Spazierengehen und Kaffeetrinken, daher ist die Schaufensterdeko enorm wichtig, um Leute auch abends oder am Wochenende auf sich aufmerksam zu machen." Außerdem kämen viele Stammkunden in den Weidenstieg, um Marken wie Drykorn, Strickwaren von Hugenberg oder Mode von Ellen Eisemann zu kaufen - die Berliner Designerin wird in Hamburg ausschließlich von Angelo`s verkauft.

Wenn Post kommt oder Ware angeliefert wird, kann sich Petersdorf auch heute noch auf Familie Jacob verlassen, die gern den Schlüsseldienst für ihn übernimmt. Anja Jacob, die in die Fleischerfamilie einheiratete, hat in diesem Jahr die Geschäfte an ihre beiden Söhne Kevin und Dennis übergeben. Zusammen mit ihrem Mann Kay steht sie nach wie vor hinter der Theke, um Koch- und Räucherwaren sowie Aufschnitt aus eigener Herstellung zu verkaufen. Und die Spezialität des Hauses: Krakauer Würstchen nach einem alten Breslauer Familienrezept. Das wissen nicht nur die Eimsbüttler zu schätzen. An Feiertagen stehen Kunden aus ganz Hamburg Schlange, um Gänse, Wild oder die beliebten Kochwürste zu ergattern. Viele norddeutsche Gastronomen, darunter auch Bullerei-Chef Tim Mälzer, kaufen bei "Jacob" ein.

Selbst gemacht - das ist überhaupt das Zauberwort dieser besonderen Einkaufsstraße. Hier kommt quasi nichts von der Stange. "Man kann sich Mode, Schmuck, Möbel, Visitenkarten und natürlich auch Hüte nach eigenen Wünschen anfertigen lassen", sagt Birte Breckwoldt, Inhaberin des Hutgeschäfts Behütet, "bis hin zum Catering von der 'Speisekammer' oder dem türkisch-mediterranen Restaurant Dilara". Die Modistin gilt als die gute Seele der Straße, engagiert sich sehr für eine gute Nachbarschaft. Es gehöre zur "Weidenstiegslebensart", dass man sich hier gegenseitig unterstütze. "Ich versuche möglichst viel im Viertel einzukaufen", sagt Birte Breckwoldt, "im Gegenzug kaufen die Nachbarn bei mir ihre Wollmützen für den Winter."

Vielleicht sind dieser wohlwollende Austausch und das rege Interesse der Nachbarschaft auch das Erfolgsrezept für die Einzelhändler, die schon seit vielen Jahren im Weidenstieg existieren, während anderenorts die Läden reihenweise schließen. Demnächst bekommt der Weidenstieg noch einen Neuzugang: ein Geschäft für Mode, Baby- und Wohnaccessoires von Kreativen aus aller Welt wird dort einziehen, wo bislang eine Altenpflege-Station war.

Dass der Laden gut in die Weidenstiegsmischung passt, davon war Birte Breckwoldt überzeugt. Sie kannte die Besitzerin bereits und stellte den Kontakt zum Vermieter her. Ebenso hat die Modistin viel dazu beigetragen, dass alle zwölf Monate ein Straßenfest gefeiert wird: Jedes Jahr im September feiert der gesamte Weidenstieg, mit Live-Musik von Abi Wallenstein, der auch hier lebt, einem Flohmarkt und vielen selbst gemachten Leckereien.

Dann wird aus der schönen Wohnstraße nicht nur eine Einkaufs-, sondern auch eine Tanz- und Partymeile.