Obamas Sieg eröffnet zumindest die Chance auf weitere Reformen

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben im Laufe ihrer Geschichte eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen, gefährliche Extreme in ihrer politischen Führung zu vermeiden. Der überraschend deutliche Sieg des liberalen Demokraten Barack Obama ist für die USA eine gute Nachricht.

Nicht nur hatte sein Herausforderer Mitt Romney seine politische Richtung im Wahlkampf öfter geändert als ein Scheibenwischer. Zudem hatte er alles getan, um sein Image eines eiskalten Profiteurs, den das Schicksal der wachsenden US-Unterschicht keinen Cent interessiert, zu zementieren. Und die sozialpolitischen Überzeugungen seines designierten Vize Paul Ryan waren selbst für die Republikanische Partei radikal.

Zwar hat die ernüchternde Tagespolitik zumeist den Effekt, allzu ehrgeizige politische Programme rundzuschleifen. Doch selbst unter mildernden Umständen wäre das Duo Romney/Ryan geeignet gewesen, Amerika förmlich auseinanderzureißen.

Die Amerikaner leiden prinzipiell an ihren historischen Erfolgen. Vor allem der Sieg im Kalten Krieg wurde als letzte Bestätigung für die Einzigartigkeit, den Exzeptionalismus, der USA gewertet. Das großartigste Land der Erde, betraut mit der göttlichen Mission, der Welt einen Weg ins Licht zu weisen; die USA als neues Jerusalem, als weithin leuchtende "Stadt auf dem Hügel" - das ist die geradezu genetisch verankerte Grundüberzeugung vieler Amerikaner. Vor allem Republikaner wehren sich gegen die Einsicht, dass die Kraft Amerikas relativ zum Rest einer sich multipolar strukturierenden Welt abnimmt, dass neben der maroden Infrastruktur vieles in den USA dringend reformbedürftig ist, dass die alten Rezepte der Gründerväter nicht mehr greifen.

Im Grunde ging es Romney und Co., entgegen aller Vernunft und Realität, darum, die dominierende Ausnahmeposition Amerikas mit der Brechstange zu erhalten - und sei es mit der weiteren Aufstockung des grotesk aufgeblähten Militärapparats. Die Niederlage Romneys wird einen Richtungskampf in der Partei auslösen, deren konservative weiße Wählerbasis durch die demografische Entwicklung in den USA abschmilzt. Sie könnte sich sogar am Ende spalten.

Barack Obama hat die Probleme der USA verstanden; die Beendigung der Billionen Dollar teuren Kriege, die Gesundheitsreform und seine Steuerpläne sind Beweise dafür. Vor allem die ideologisch bedingte totale Obstruktionspolitik der Republikaner hat weitere Schritte zur Gesundung des Landes verhindert. Es ist mehr als unsicher, dass es Obama gelingen wird, die sich dramatisch öffnende soziale Kluft in den USA entscheidend zu schließen oder die politische Spaltung der Gesellschaft zu heilen. Amerika droht aktuell im Etatstreit gar eine finanzielle Lähmung. Der alte und neue Präsident wird nicht umhinkönnen, zähneknirschend auf die im Repräsentantenhaus vorherrschenden Republikaner zuzugehen, um Kompromisse auszuloten.

Eine zweite Amerikanische Revolution, ein rooseveltscher New Deal mit grundlegenden Durchbrüchen in der Sozialpolitik sind derzeit kaum zu erwarten. Doch Obama hat immerhin nun die Möglichkeit, einige richtige Weichenstellungen vorzunehmen.

Für Europa bedeutet Obamas Sieg zunächst Kontinuität. Der stark nach Asien hin orientierte Präsident erwartet allerdings, dass Europa - und das heißt auch Deutschland - die USA im atlantischen Raum sicherheitspolitisch stärker entlastet. Damit kommen auf uns finanzielle und möglicherweise sogar militärische Belastungen zu.

Amerikas innere Zerrissenheit ist eine ernsthafte Behinderung bezüglich der globalen Herausforderungen - wie China, Iran oder Wirtschaftskrise.

Die USA haben große Probleme und stehen am Scheideweg. Doch niemand sollte die Kraft der Erneuerung dieses Landes unterschätzen.